Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Sie waren vom 2.-5. April in der Türkei, um inhaftierte Abgeordnete zu besuchen. Was können Sie von ihrer Reise berichten?

Nach wie vor sitzen neun der im Juni 2011 gewählten oppositionellen Abgeordneten der türkischen Nationalversammlung im Gefängnis, sechs von der kurdischen BDP, zwei von der CHP und einer von der MHP. Einem von ihnen, Hatip Dicle (BDP), wurde das Mandat aberkannt. Die Anderen sitzen schon seit über drei Jahren in Untersuchungshaft. Als Türkei-Berichterstatter meiner Fraktion im EU-Ausschuss wollte ich mir ein Bild der Situation machen. Wir beantragen die Aufnahme der inhaftierten Abgeordneten in das Bundestagsprogramm „Parlamentarier schützen Parlamentarier“.

Und wie ist die Situation in den Gefängnissen?

In den kurdischen Gebieten sind die Gefängnisse völlig überfüllt, dort sitzen auch über 2000 Kinder in Haft. Ich habe Selma Irmak in Diyarbakir und Faysal Sariyildiz (beide BDP) in Mardin besucht, die beide kürzlich einen 20-tägigen Hungerstreik beendet hatten. Mein persönlicher Eindruck war, dass beide in guter mentaler Verfassung sind. Die Gefängnisse dort sind jedoch dreifach überbelegt. Das Gefängnis in Mardin etwa ist für 350 Menschen ausgelegt, dort werden gegenwärtig über 1000 Menschen festgehalten. Beide Abgeordnete berichteten mir, dass sie sich ihre Matratze mit zwei weiteren Gefangenen teilen müssen. Ich konnte mir eine Zelle anschauen. 22 Angeklagte mussten auf einer Fläche von ca 30 m² leben. Einer von ihnen ist seit Monaten bettlägerig krank, ohne, dass es eine medizinische Versorgung gibt.

Der Journalist Mustafa Balbay (CHP), den in ich in Silivri bei Istanbul besuchte, wird gegen seinen Willen seit Jahren in Einzelhaft gehalten. Das Ende der Isolationshaft, wird mit Hinweis auf seine vermeintlichen Straftaten abgelehnt - obwohl er bislang gar nicht verurteilt wurde.

Seit den Kommunalwahlen 2009 wurden 6500 Menschen inhaftiert. Was wird ihnen und den Abgeordneten vorgeworfen?

Den BDP-Abgeordneten wird KCK-Mitgliedschaft vorgeworfen, also die Beteiligung an Projekten der „demokratischen Autonomie“ in den kurdischen Gebieten. Auf dieser Grundlage sind nicht nur die sechs Abgeordneten, sondern auch mindestens 19 gewählte Bürgermeister, ca.6000 Anhänger der BDP, sowie bekannte türkische Menschenrechtler und Journalisten inhaftiert. Allen werden keine konkreten Straftaten sondern z.b. die Teilnahme an Pressekonferenzen oder Veranstaltungen vorgeworfen. Mustafa Balbay wird die Beteiligung am „Ergenekon-Netzwerk“, einer vermeintlichen Verschwörung zum Sturz der AKP-Regierung, vorgeworfen.

Mein Eindruck ist jedoch, dass es bei dem Verfahren nicht primär um die Aufklärung einer möglichen Verschwörung, sondern - ähnlich wie bei den KCK-Verfahren - um die Schaffung einer Konstruktion geht, mittels derer Oppositionelle etwa aufgrund anonymer Hinweise beliebig aus dem Verkehr gezogen werden können. Das hat schon Orwell’sche Züge.

Was sind Ihre politischen Schlussfolgerungen?

Was den türkisch-kurdischen Konflikt angeht, so muss klar sein, dass es keine militärische oder repressive Lösung geben kann. Hier müssen endlich die Waffen schweigen und, auch unter Einbeziehung von Öcalan, verhandelt werden. Alle Erfahrungen mit ähnlichen Konflikten - etwa in Südafrika oder Nordirland - zeigen, dass es keinen anderen vertretbaren Weg gibt. Das ist ja auch eine der zentralen Forderungen der vielen Kurdinnen und Kurden, die sich zum Teil schon seit 46 tagen im Hungerstreik befinden. Die meisten befinden sich mittlerweile in einem sehr kritischem, lebensgefährlichen gesundheitlichen Zustand.

Bemerkenswert ist das zunehmende Interesse in der Zivilgesellschaft und der Linken an einer friedlichen Lösung. Ich begrüße es, dass es hier neue Allianzen gibt, wie etwa den „Demokratischen Kongress der Völker (HDK). Entscheidend ist auch der Verfassungsgebungsprozess. M.E. sollte dabei der aggressive Homogenisierungs- und Zentralisierungsanspruch des türkischen Staates, der einer der Ursachen der immer wieder kehrenden Konflikte ist, aufgegeben werden.

Kein Verständnis habe ich für die Haltung der Bundesregierung und vieler EU-Verantwortlicher, die aus geopolitischen Opportunitätsgründen zur dramatischen Verschlechterung der Lage in der Türkei schweigen und das AKP-Regime gar noch als Vorbild für die arabische Welt hinstellen. Ein solcher Doppelstandard in puncto Menschenrechte und Demokratie ist einfach abstoßend.

 

Interview mit Martin Dolzer, leicht gekürzt erschienen in: Neues Deutschland, 11.04.2012

Andrej Hunko ist Mitglied des Bundestags für die Fraktion Die Linke und Mitglied in der Parlamentarischen Versammlung des Europarats

 

 

 

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