Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Frankreich und Deutschland wollen unter bestimmten Bedingungen wieder Grenzkontrollen einführen. Der Aufruhr ist EU-weit groß. Andrej Hunko von der Partei Die Linke vermutet darin politisches Kalkül drei Tage vor der Präsidentschaftswahl in Frankreich: Das rieche doch sehr "nach Wahlkampfhilfe für Sarkozy".

Christoph Heinemann: Wenn Diplomaten von Überraschungen sprechen, dann schwingt Kritik mit. Mindestens ein hoher Beamter der Europäischen Union fühlt sich unvorbereitet getroffen von Plänen aus Paris und Berlin, so berichtet heute die "Süddeutsche Zeitung". Worum geht es?

Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich (CSU) und sein französischer Amtskollege Claude Guéant fordern in einem Brief, dass Grenzkontrollen unter bestimmten Bedingungen wieder eingeführt werden sollten. Der Vorschlag soll in der kommenden Woche beim Treffen der Innenminister der Europäischen Union beraten werden. Am Telefon ist Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei, dort Mitglied des Europaausschusses des Deutschen Bundestages. Guten Tag.

Andrej Hunko: Ja, schönen guten Tag.

Heinemann: Herr Hunko, Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Dieser Ausspruch wird Lenin zugeschrieben. Gilt das auch für Staatsgrenzen?

Hunko: Ja. Ich meine, jetzt geht es ja sozusagen um die Freizügigkeit innerhalb der Europäischen Union, um die Reisefreiheit, und ich denke, das ist eine sehr große Errungenschaft. Es macht auch für die Menschen konkret Europa erfahrbar, man muss nicht mehr an Grenzen anstehen. Ich komme selbst ja aus der Drei-Länder-Region Deutschland-Niederlande-Belgien, und das ist schon ein großer Fortschritt und ich habe kein Verständnis für diesen Vorstoß von Innenminister Friedrich.

Heinemann: Wird damit das Schengen-Abkommen ausgehebelt?

Hunko: Die Gefahr besteht, weil das Schengen-Abkommen sieht ja genau die Reisefreiheit vor, und was Friedrich und sein französischer Kollege jetzt machen, ist ja genau das, was Friedrich selbst vor einem Jahr bei Dänemark kritisiert hat, nämlich dass die Nationalstaaten nach Gutdünken wieder Grenzkontrollen einführen sollen. Das halte ich für falsch.

Heinemann: Aber es gibt ja längst Ausnahmen: bei Großveranstaltungen, Weltmeisterschaft zum Beispiel, und so weiter.

Hunko: Ja das ist eine Sache, die wir auch immer wieder kritisiert haben. Das wird ja auch dann oft politisch genutzt, dass man für bestimmte Gruppen die Reisefreiheit einschränkt. All das geht in die falsche Richtung. Und wenn jetzt von nationaler Souveränität die Rede ist - ich glaube nicht, dass durch einige Migranten die nationale Souveränität infrage gestellt wird, wohl aber gegenwärtig eher durch solche Entwicklungen wie Fiskalpakt und ESM.

Heinemann: Aber wie groß sind denn die Chancen, dass sich die EU auf Kriterien einigen kann, die Ausnahmefälle ermöglichen?

Hunko: Na ja gut, es gibt ja den Vorstoß der Europäischen Kommission, ein Vorschlag, der relativ differenziert ist. Ich denke, das geht in die richtige Richtung. Das wäre eine Grundlage, auf der man sich einigen kann. Aber jetzt praktisch zwei Tage, drei Tage vor der französischen Präsidentschaftswahl zusammen so einen deutsch-französischen Vorstoß zu machen, das riecht für mich auch sehr nach Wahlkampfhilfe für Sarkozy.

Heinemann: Welche Kriterien für Ausnahmen lassen Sie denn gelten?

Hunko: Ich persönlich bin eigentlich nicht dafür, dass Nationalstaaten wieder Grenzkontrollen einführen sollen. Aber wenn das ein Kompromiss ist, könnte ich mich darauf einlassen. Aber ich bin eigentlich gegen Grenzkontrollen innerhalb der Europäischen Union.

Heinemann: Noch mal: welche Kriterien, in welchen Fällen Ausnahmen?

Hunko: Also ich persönlich würde keine Kriterien gelten lassen.

Heinemann: Also grundsätzlich keine Ausnahmen von dem Schengen-Abkommen?

Hunko: Reisefreiheit innerhalb der Europäischen Union fände ich durchgängig wünschenswert ja.

Heinemann: Das heißt im Umkehrschluss, Ihrer Meinung nach werden auch die Außengrenzen im Süden und im Osten ausreichend geschützt?

Hunko: Die Außengrenzen werden geschützt - Aber was heißt: geschützt? - Es geht mir im Grunde genommen zu weit. Es sind letztes Jahr 1500 Menschen im Mittelmeer gestorben an den Außengrenzen. Das ist eine Sache, die auch sehr problematisch ist. Das Grundproblem ist nicht, dass Menschen fliehen aus Not, sondern sind die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, und die müssen angegangen werden, die Fluchtursachen bekämpft werden und nicht die Flüchtlinge.

Heinemann: Gleichwohl muss doch die Europäische Union dafür sorgen, dass die Außengrenzen in irgendeiner Weise geschützt sind, dass da gefiltert werden kann.

Hunko: Ja. Aber wenn Sie sagen "schützen", dann heißt das, es gibt eine Bedrohung, eine ernsthafte Bedrohung durch einen Massenansturm. Aber diese Bedrohung sehe ich nicht.

Heinemann: Also es kann reinkommen, wer möchte, Ihrer Meinung nach?

Hunko: Ich denke, Menschen in Not, die aus Not fliehen, die vorm Bürgerkrieg fliehen, wie letztes Jahr aus Tunesien, diese Menschen sollten Aufnahme kriegen in der EU.

Heinemann: Ohne Einschränkungen sollten alle, die aus wirtschaftlichen Gründen sich in der Welt in Bewegung setzen, nach Europa einreisen können?

Hunko: Ohne Einschränkung sollten Menschen, die in Not sind und aus politischen oder wirtschaftlichen Gründen fliehen, einreisen können ja.

Heinemann: Und da sehen Sie keinerlei Beschränkung oder irgendwelche politischen Überforderungen oder wirtschaftliche Überforderungen der Sozialsysteme? Das lassen Sie nicht gelten?

Hunko: Wenn ich mir zum Beispiel letztes Jahr mal anschaue: Wir hatten eine heftige Debatte gehabt hier in Europa wegen 100 Flüchtlingen, die aus Tunesien gekommen sind. Im gleichen Zeitraum hat Tunesien 700.000 Menschen aufgenommen aus Libyen, als der Bürgerkrieg dort im Gange war. Also diese Debatte ist völlig disproportional. Europa ist eine sehr reiche Region und ich glaube nicht, dass es ein Problem ist, wenn Menschen hier hinkommen.

Heinemann: Herr Hunko, das Wort "Grenzkontrollen" weckt ja angesichts der deutsch-deutschen Geschichte unschöne Erinnerungen. Sie sind gebürtiger und gelernter Wessi und gehören einer Partei an, in der viele aktive Mitglieder früher an Mauer und Schießbefehl nichts oder wenig auszusetzen hatten. Reiben Sie sich manchmal die Augen, wenn sich ehemalige SED-Leute heute für Freizügigkeit einsetzen?

Hunko: Ich reibe mir nicht die Augen. Ich komme aus der WASG, die Mehrheit unserer Bundestagsfraktion kommt auch aus dem Westen. Das ist eine Vorläuferpartei der Linkspartei, die früher eine andere Politik gemacht hat. Das ist mir bekannt. Aber für mich gilt da das Programm und das Programm ist eindeutig und auch die Politik meiner ostdeutschen Kollegen ist hier eindeutig.

Heinemann: Kurz zum Zustand der Partei. Die Linkspartei ist zur Hälfte im Augenblick führungslos, seit dem Rücktritt von Gesine Lötzsch. Sollte Oskar Lafontaine jetzt rasch klarstellen, ob er für den Vorsitz kandidiert?

Hunko: Also ich finde, wir haben im Juni ja einen Parteitag, da wird der Vorsitz geklärt. Das wird dann auch so sein. Wir sind jetzt auch nicht führungslos, wir haben ja nach wie vor einen Vorsitzenden. Aber ich persönlich würde mir auf jeden Fall eine starke Rolle von Oskar Lafontaine auf der Bundesebene wünschen.

Heinemann: Auch als Parteivorsitzender?

Hunko: Auch als Parteivorsitzender ja.

Heinemann: "Oskar Lafontaine findet keine Frau", titelte jüngst eine Zeitung. Gemeint war natürlich eine Partnerin für die Parteiführung. Wer wäre denn da Ihr Vorschlag?

Hunko: Also ich mache jetzt keine Personalspekulationen. Es ist natürlich eine sehr durchsichtige Titelung. Weil wir jetzt im Augenblick eben auch keine Personaldiskussion führen, heißt das ja nicht, dass Oskar keine Frau findet. Das ist halt eine Schlagzeile, die halt bestimmte Intentionen hat, aber das will ich auch nicht weiter kommentieren.

Heinemann: Aber ein Name fällt Ihnen heute Mittag nicht ein?

Hunko: Mir würden Namen einfallen, aber das ist wie gesagt: Wir entscheiden das auf dem Parteitag und ich mache jetzt keine neue Personalspekulation hier auf.

Heinemann: Andrej Hunko, Bundestagsabgeordneter der Linkspartei und Mitglied des Europaausschusses des Deutschen Bundestages. Danke schön für das Gespräch und auf Wiederhören.

Hunko: Bitte schön! Danke.

 

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

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