Mit Sorge blickt Andrej Hunko (Die Linke) auf die Brexit-Verhandlungen. Marlon von der Redaktion Mitmischen ihn gefragt, womit wir beim Austritt der Briten aus der EU rechnen müssen und ob wir bald ein Visum für Großbritannien brauchen.

Essen Sie gerne Fisch, Herr Hunko?

Ich esse gerne Fisch, ja.

Der könnte bald teuer werden. Noch dürfen die europäischen Fischer vor der ertragreichen Küste Großbritanniens ihre Netze auswerfen. Nach dem Brexit voraussichtlich nicht mehr. Fische müssten dann teuer importiert werden – und das könnte für viele andere Waren gelten. Wie wahrscheinlich ist das Szenario?

Wenn Großbritannien trotz Brexit wirtschaftlich eng mit den anderen EU-Staaten verbunden wäre, dann dürften die Preise nicht steigen. Dazu müsste das Land im sogenannten Europäischen Binnenmarkt bleiben. Oder wenn es erst gar nicht zum Brexit kommt, das kann auch passieren.

Im Augenblick ist die Situation sehr unsicher. Ich hatte neulich ein Gespräch über die Verhandlungen zwischen Großbritannien und der Europäischen Union mit dem Chefunterhändler der EU, Michel Barnier. Er sagte: "There is a good chance to get a deal". Das heißt für mich: Es ist möglich, aber überhaupt nicht klar. Damit steht auch die Drohung eines "Dirty Brexit" im Raum, also die Gefahr, gar kein Abkommen zu erzielen. Das wäre, glaube ich, das Schlimmste, was passieren könnte.

Für wie wahrscheinlich halten Sie den "Dirty Brexit"?

In Zahlen ausgedrückt: zu 30 bis 40 Prozent. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass es einen Deal geben wird. Aber noch sind verschiedene Fragen zwischen Großbritannien und der EU völlig ungeklärt, es gibt komplexe Themen, bei denen man nicht absehen kann, wie da eine Einigung aussehen soll.

Sie sagten, Großbritannien könnte vielleicht im Binnenmarkt bleiben. Das wäre ja nicht nur ein geordneter Brexit, sondern etwas, das die EU begrüßen würde, oder?

Es gibt verschiedene Varianten und mögliche Szenarien. Die EU hat auch zu Staaten wie Norwegen, die nicht in der EU sind, enge wirtschaftliche Beziehungen. Da gibt es verschiedene Abstufungen. Wenn es zu keinem Abkommen kommt, dann werden die Wirtschaftsbeziehungen mit Großbritannien so geregelt werden, wie es im Rahmen der Welthandelsorganisation geschieht – das wären dann minimale Standards.

Gibt es denn schon Punkte, wo man sich geeinigt hat?

Bei den Rechten von EU-Bürgern, die in Großbritannien leben oder Briten, die in der EU leben, hat man sich zwar schon geeinigt. Das Problem ist: Diese Einigungen treten nur in Kraft, wenn es zu einem gesamten Abkommen kommt. Ich habe schon zu Beginn der Verhandlungen gesagt: Lasst uns doch wenigstens das, was unmittelbar die Rechte der Bürger betrifft und wo man sich einig ist, nicht als Teil des Gesamtpakets betrachten, sondern schon mal als getrenntes Abkommen festzurren. Damit wäre diese Unsicherheit weg. Doch diese Rechte sind jetzt eben abhängig vom Abschluss des Gesamtpakets. Denn sie sind in den Verhandlungen auch ein Mittel, durch das Druck auf den jeweils anderen ausgeübt werden kann.

Müssen EU-Bürger, die in Großbritannien leben, Angst haben, nach dem Brexit ausgewiesen zu werden?

Ich will jetzt nicht den Teufel an die Wand malen. Aber wenn es keinen Deal gibt, ist nichts geregelt. Es kann natürlich auch sein, dass man sich kurzfristig einigt. Doch es entsteht eine Unsicherheit und das kann für Menschen existenziell sein.

Deswegen ist es gut, wenn man sich darauf vorbereitet. Ich glaube, man müsste für so einen Fall auch eine Art Notfallfonds einrichten, um die härtesten Schicksale abzufedern. Das ist eine neue Idee in unserer Bundestagsfraktion, die haben wir schon in unserer Europa-Arbeitsgemeinschaft diskutiert und die wird sicherlich noch einmal im EU-Ausschuss konkretisiert werden.

Im Vereinigten Königreich lehren und forschen ungefähr 5.000 Deutsche. Werden die nach dem Brexit nach Deutschland kommen, weil sie keine Aufenthaltserlaubnis erhalten oder weil ihnen im Königreich nun die Fördergelder der EU fehlen?

Ohne Abkommen würden britische Universitäten zumindest den direkten Zugang zu EU-Forschungsprogrammen wie "Horizon 2020" verlieren, also EU-Fördergelder verlieren. Wenn die betreffenden Forschungsprojekte keine Perspektive in Großbritannien haben, werden die Wissenschaftler, so denke ich, zurückkommen oder ihre Arbeit in anderen Ländern fortführen müssen.

Im Einzelnen kann man auch das noch nicht konkret sagen, aber das wäre sehr schade, wenn viele Großbritannien verlassen müssten. Bei einem weichen Brexit würde es ein Abkommen geben, das auch nicht so weit weg ist von den jetzigen Regeln. Dann gehe ich davon aus, dass sie bleiben können.

EU-Bürger an britischen Unis zahlen niedrigere Studiengebühren als Studenten aus Drittstaaten. Bliebe es bei einem weichen Brexit dabei?

Kurzfristig haben die britische und die schottische Regierung zugesichert, dass die Regelung erstmal auch unabhängig vom Brexit erhalten bleibt. Aber was Studienanfänger aus der EU betrifft, die nach dem Brexit ein Studium im Königreich beginnen, wäre auch das Gegenstand eines Abkommens.

Wir haben die Situation, dass es erst ein Brexit-Abkommen geben muss, also Regeln für den Austritt. Dann kann es ein Abkommen über die künftigen Beziehungen geben. Und Teil eines Abkommens über die künftigen Beziehungen müsste auch die Frage der Studiengebühren sein.

Vieles ist also in der Schwebe. Könnte es sogar passieren, dass wir bald nur noch mit Visum nach Großbritannien fahren dürfen?

Das ist möglich, ja. Aber auch das wird noch verhandelt. Wir brauchen aber zum Beispiel auch kein Visum für Island, obwohl das kein EU-Staat ist. So etwas lässt sich regeln.

Wann werden wir wissen, wie es weitergeht, vielleicht sogar, wie der Brexit aussieht?

Der 13. November ist ein Stichtag, da soll es einen Sondergipfel geben. Ursprünglich sollte alles bereits im Oktober geklärt sein. Die Verhandlungs-Deadline ist im März. Und man braucht diese Zeit, weil ja auch die EU ein Abkommen vom Parlament absegnen lassen muss. Ich bleibe optimistisch. Aber ich sage auch: Die Brexit-Vereinbarungen sind überhaupt nicht in trockenen Tüchern und ich sehe mit Sorgen auf diese letzten Wochen der Verhandlungen.

Über Andrej Hunko:

Andrej Hunko (Die Linke), geboren 1963 und aufgewachsen in Aachen, studierte nach seinem Abitur und Zivildienst zunächst Medizin und arbeitete unter anderem als LKW-Fahrer und Krankenpfleger. Bereits in seiner Jugend war er aktiv in der Friedensbewegung und später in linken Organisationen. Seit 2009 ist er Mitglied des Bundestags und sitzt seit der 19. Wahlperiode als Obmann der Linken im EU-Ausschuss