Zeitgeschehen im Fokus Was gab es für Reaktionen aus der Bevölkerung auf das erstaunlich gute Abschneiden des BSW bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen?
Bundestagsabgeordneter Andrej Hunko Aus Sicht unserer Partei war das ein ausserordentlicher Erfolg. Dass eine Partei, die vor 8 Monaten von 50 Personen gegründet wurde, in zwei Landtagswahlen zweistellige Ergebnisse erreicht hat, ist präzedenzlos. Wir sind im Grunde genommen noch im Aufbauprozess. Wir haben keinen richtigen Apparat, wir haben keine hauptamtlichen Bataillone, auch nicht das grosse Geld. Das ist schon ein toller Erfolg.
Persönlich habe ich sehr viele Gratulationsmails und SMS aus der ganzen Welt erhalten, aus den USA und aus verschiedenen europäischen Ländern. Es ist auch erstmalig, dass zwei Landtagswahlen eine solche internationale Aufmerksamkeit bekamen. Sie sind ein internationales Thema geworden. Das hat teilweise mit unserer neuen Partei zu tun und damit, dass die AfD auch so eine Stärke zeigte.
Das Wahlergebnis ist zudem ein Debakel für die Regierungsparteien. Die Parteien der regierenden Ampel-Koalition bekamen zusammen ungefähr so viele Stimme wie das BSW alleine. Entsprechend haben wir eine Regierungskrise in Deutschland. Es ist ein politisches Erdbeben, ein fundamentaler Umbruch innerhalb des Parteiensystems, der sich hier andeutet.
Was für politische Möglichkeiten, eine Regierung zu bilden, gibt es in Thüringen?
Land auf, Land ab wird diskutiert, wie eine Regierungsbildung in den beiden Bundesländern, Sachsen und Thüringen möglich wäre. Mit der AfD zu koalieren haben alle Parteien abgelehnt. In Thüringen gäbe es deshalb nur eine Mehrheit, wenn CDU, BSW und die Linke koalierten, eine sogenannte Brombeer-Koalition. Eine Regierung aus CDU, BSW und SPD würde nur auf die Hälfte der Stimmen kommen. Die CDU hat aber einen Unvereinbarkeitsbeschluss nicht nur mit der AfD, sondern auch mit der Linken, der offiziell nach wie vor gilt. Auch wenn die Linke in Thüringen pragmatisch ist, gilt der Beschluss. Vor lauter Brandmauern hat die CDU sich hier ziemlich handlungsunfähig gemacht.
Was geschieht in Sachsen?
Hier ist die Lage nicht so kompliziert wie in Thüringen. Es ist eine Koalition ohne die Linke möglich, allein aus CDU, BSW und SPD. Dazu wird es auch Gespräche geben. Es ist in dem Sinne einfacher, weil die CDU nicht gezwungen ist, eigene Beschlüsse zu ignorieren. Allerdings gibt es innerhalb der CDU heftigen Widerstand gegen eine Kooperation mit dem BSW.
Wie kann es in Thüringen weitergehen?
Es gibt bereits sogenannte Optionsgespräche. Wir haben vor der Landtagswahl gesagt, das BSW beteiligt sich nur an einer Regierung, wenn sich die Situation für die Menschen im Land spürbar verbessert und wenn eine solche Landesregierung ihre Stimme für Diplomatie und gegen die von den USA geplante Stationierung von Raketen in Deutschland im Jahr 2026 erhebt. Darum gibt es eine grosse Aufregung. Die Reaktionen kamen prompt: Das sei kein landespolitisches Thema. Einige scheinen die föderalen Strukturen in Deutschland nicht gut zu kennen. Es gibt den Bundesrat, der die Vertretung der Länder darstellt. Diese Kammer hat einen Auswärtigen Ausschuss, der die Aufgaben des Auswärtigen Amtes widerspiegelt. Die Kompetenz liegt dann auf der nationalen Ebene beim Auswärtigen Amt und in letzter Konsequenz im Kanzleramt. Es ist also nicht so, dass der Bundesrat hier nichts zu sagen hätte. Es ist ein Thema, das den Menschen unter den Nägeln brennt. Solche Themen müssen angesprochen werden.
Es gab auch interessante Umfragen. Gemäss den Nachwahlbefragungen sagen in Thüringen 60 Prozent und in Sachsen 55 Prozent aller Wähler von allen Parteien, dass sie es richtig finden, dass das BSW etwa die Waffenlieferungen an die Ukraine kritisiert. Das ist eine enorme Zahl, die die Auffassung der Mehrheit im Osten widerspiegelt. Im Westen ist das nicht so ausgeprägt.
Es ging in Thüringen und Sachsen natürlich auch um soziale Themen wie Schulen, um Kriminalität und um Migration. Aber es ist uns gelungen, über diese Wahlen die geplante Stationierung der US-Raketen, die aufgrund des INF-Vertrags bis vor kurzem noch illegal war, zum Thema zu machen. Natürlich können Thüringen und Sachsen nicht über die Stationierung entscheiden, aber die Landesregierungen können ihre Stimme dagegen erheben.
Wie kam es zur Entscheidung, neue Mittelstreckenraketen zu stationieren?
Beim Nato-Gipfel in Washington im Juli hat Olaf Scholz bei einem Side-Event eine dürre bilaterale Erklärung unterzeichnet, dass die USA Mittelstreckenraketen mit einer Reichweite von 1500 bis 5500 km in Deutschland stationieren werden. Das ist nicht mit der Nato konsentiert, und dass die Raketen hier stationiert werden sollen, macht Deutschland zu einem potentiellen Angriffsziel.
Man muss wissen, dass in Deutschland die Stationierung von Mittelstreckenraketen eine besondere Geschichte hat. Es gab Anfang der 80er Jahre die Auseinandersetzung um den Nato-Doppelbeschluss. Das hiess: Erstens, die Pershing-II-Raketen werden stationiert; zweitens, es sollen Verhandlungen über Rüstungskontrollverträge mit der Sowjetunion geführt werden. Die Stationierung wurde von den Gegnern schwer kritisiert. 300 000 hatten damals in Bonn dagegen demonstriert. Aber selbst die damaligen Befürworter wollten, dass es am Ende ein Kontrollregime geben soll. Heute haben wir gar nichts, es ist nichts mehr da. Es geht nur um die Stationierung. Keiner weiss, warum, mit welchem Ziel – kein Hinweis auf neue Verhandlungen, wie das beim Nato-Doppelbeschluss vorgesehen war. Heute handelt es sich um reine Eskalation.
Was für Mittelstreckenwaffen sollen stationiert werden?
Es geht etwa um «Tomahawk-Raketen», die eine Reichweite von 2000 Kilometern haben, damit Moskau erreichen können und die atomar bestückbar sind, was zwar im Moment noch nicht vorgesehen ist, aber jederzeit geändert werden kann. Noch besorgniserregender ist der «Dark Eagle», der eine höhere Reichweite hat und mit fünffacher Schallgeschwindigkeit fliegen und in wenigen Minuten in Moskau sein kann. Diese Waffe kommt im Moment in den USA in den potenziellen Anwendungsbereich.
Warum hat man in den 80er Jahren den INF-Vertrag abgeschlossen?
Um wirklich die Stationierung der Pershing-II-Raketen und die sowjetischen SS 20 rückgängig zu machen und um sie zu verschrotten, was auch überwiegend geschehen ist. Dass Mittelstreckenraketen auch eine ungewollte Eskalation hervorrufen können, liegt daran, dass der Gegner bei einem Angriff nur sehr wenig Zeit hat zu reagieren. Man muss innert kürzester Frist entscheiden, ob man zurückschlägt oder nicht. Deshalb gab es diesen INF-Vertrag, der eine weitere Stationierung verboten hat und eine Eskalation verhindern konnte. Dieser Vertrag ist 2019 einseitig von Donald Trump aufgekündigt worden, mit der Begründung von angeblichen Vertragsverletzungen durch die russische Seite. Faktisch sind alle Abrüstungsverträge aus der Zeit des Kalten Kriegs überwiegend von den USA gekündigt worden. Dazu gehören auch START oder die Open-Skies-Abkommen. Wir stehen somit wieder vor einer gefährlichen Rüstungsspirale und sind in den bilateralen Beziehungen um Jahrzehnte zurückgefallen. In Deutschland wird das überhaupt nicht diskutiert. Olaf Scholz hat in Washington ohne grosse Debatte blindlings die Absichtserklärung unterschrieben, und so soll das jetzt umgesetzt werden.
Welche Möglichkeiten gibt es, diese Stationierung zu verhindern?
Jetzt ist natürlich eine gewisse Unruhe entstanden, und ich finde es richtig, was Sahra Wagenknecht gesagt hat: Wenn sich das BSW an einer Regierung in Thüringen oder Sachsen beteiligen soll, dann muss eine solche Regierung die Stimme erheben gegen diese Stationierung der Raketen. Das alleine wird sie nicht verhindern, aber sie muss ein Bestandteil in einem Koalitionsvertrag sein und somit auch diskutiert werden. Es ist auch nichts Ungewöhnliches, etwa in der Präambel eines Koalitionsvertrags solche Punkte festzuhalten, das gab es auch zu anderen internationalen Themen bei anderen Koalitionsverträgen in den Bundesländern.
Als kleine Bundestagsgruppe haben wir zudem den Antrag gestellt, der dazu eine Volksbefragung vorsieht, etwa parallel zur Bundestagswahl 2025 mit der Frage: «Sind Sie für oder gegen die Stationierung dieser Raketen?» Da gibt es Kritiker, die keine Ahnung von der deutschen Geschichte haben. Natürlich ist ein Volksentscheid wie in der Schweiz bislang nicht vorgesehen. Es wäre nur mit einer Zweidrittelmehrheit im Parlament möglich, Volksentscheide einzuführen. Bis jetzt wird das vor allem von der CDU/CSU blockiert.
Die Form der Volksbefragung allerdings ist nicht bindend, hat aber politisch eine enorme Wucht. Es ist auch nicht das erste Mal in der Geschichte, dass eine Volksbefragung vorgeschlagen wird. In den 50er Jahren hat die SPD bei der damaligen atomaren Aufrüstung eine Volksbefragung verlangt, aber sich gegen Adenauer und die CDU-Mehrheit nicht durchsetzen können.
Die Idee ist also nicht aus heiterem Himmel gefallen, sondern hat bei einer so essenziellen Frage unstrittig ihre Berechtigung. Für die Volksbefragung werden wir einen Antrag einbringen, was bei diesem Vorgang mehr als angemessen ist.
Herr Bundestagsabgeordneter Hunko, vielen Dank für das Gespräch.
Interview Thomas Kaiser
veröffentlicht am 20. September 2024