Andrej Hunko in Stolberg nach Hochwasser Juli 2021Heute war ich in Stolberg bei Aachen und habe mir das unfassbare Ausmaß der Zerstörungen durch das Hochwasser angeschaut und lange mit Anwohner/innen gesprochen. Es war viel krasser, als ich es erwartet hatte, es macht einen großen Unterschied, wenn man sich vor Ort ein Bild macht.

Meine Stimmung schwankte zwischen den surrealen Eindrücken der Bilder der Zerstörung, dem Versuch den Weg und die Wucht der Wasssermassen nachzuvollziehen und der grandiosen Atmosphäre der gegenseitigen Hilfsbereitschaft der Anwohner und der vielen, vielen Helfer/innen. Eine solche Atmosphäre habe ich noch nie erlebt.

Selbstverständlich ist es wichtig, jetzt Empathie mit den Betroffenen zu zeigen. Selbstverständlich ist es jetzt unabdingbar, umfangreiche Hilfspakete, kurz- und langfristiger Natur, aufzulegen. Symbolisch haben wir Linken-Abgeordneten je 1.000 Euro gespendet. Selbstverständlich ist es wichtig die notwendigen Maßnahmen gegen den Klimawandel endlich ernsthaft anzupacken, ebenso wie etwa die Renaturierung von begradigten Flüssen und den Stop der Flächenversiegelung.

Worauf ich aber heute vor allem von den Betroffenen angesprochen wurde: Warum es in den betroffenen Regionen so gut wie kein Frühwarnsystem gegeben hat und warum die randvollen Talsperren nicht vor dem lange angekündigten Starkregen ausreichend Wasser abließen. Die britische Times erhebt nun schwere Vorwürfe gegen die deutschen Behörden. Das europäische Hochwasser-Warnsystem EFAS habe schon erstmals neun Tage vorher gewarnt, das Rheinland stünde vor einer "extremen" Überflutung. Hannah Cloke, Professorin für Hydrologie an der britischen Universität Reading und eine der Entwicklerinnen des Europäischen Hochwasser-Warnsystems spricht von einem "monumentalen Versagen" der deutschen Behörden.

Auch wenn jetzt die konkrete Hilfe im Vordergrund steht: Hier wird viel aufzuklären sein. Und hier werden politische Konsequenzen zu ziehen sein, auch wenn das Thema dann nicht mehr die Schlagzeilen dominiert.

Und Friedrich Engels ging mir den ganzen Tag durch den Kopf:

„Schmeicheln wir uns indes nicht zu sehr mit unsern menschlichen Siegen über die Natur. Für jeden solchen Sieg rächt sie sich an uns. Jeder hat in erster Linie zwar die Folgen, auf die wir gerechnet, aber in zweiter und dritter Linie hat er ganz andre, unvorhergesehene Wirkungen, die nur zu oft jene ersten Folgen wieder aufheben.

Die Leute, die in Mesopotamien, Griechenland, Kleinasien und anderswo die Wälder ausrotteten, um urbares Land zu gewinnen, träumten nicht, daß sie damit den Grund zur jetzigen Verödung jener Länder legten, indem sie ihnen mit den Wäldern die Ansammlungszentren und Behälter der Feuchtigkeit entzogen. Die Italiener der Alpen, als sie die am Nordabhang des Gebirgs so sorgsam gehegten Tannenwälder am Südabhang vernutzten, ahnten nicht, daß sie damit der Sennwirtschaft auf ihrem Gebiet die Wurzel abgruben; sie ahnten noch weniger, daß sie dadurch ihren Bergquellen für den größten Teil des Jahrs das Wasser entzogen, damit diese zur Regenzeit um so wütendere Flutströme über die Ebene ergießen könnten. Die Verbreiter der Kartoffel in Europa wußten nicht, daß sie mit den mehligen Knollen zugleich die Skrofelkrankheit verbreiteten.

Und so werden wir bei jedem Schritt daran erinnert, daß wir keineswegs die Natur beherrschen, wie ein Eroberer ein fremdes Volk beherrscht, wie jemand, der außer der Natur steht - sondern daß wir mit Fleisch und Blut und Hirn ihr angehören und mitten in ihr stehn, und daß unsre ganze Herrschaft über sie darin besteht, im Vorzug vor allen andern Geschöpfen ihre Gesetze erkennen und richtig anwenden zu können.

Und in der Tat lernen wir mit jedem Tag ihre Gesetze richtiger verstehn und die näheren und entfernteren Nachwirkungen unsrer Eingriffe in den herkömmlichen Gang der Natur erkennen. Namentlich seit den gewaltigen Fortschritten der Naturwissenschaft in diesem Jahrhundert werden wir mehr und mehr in den Stand gesetzt, auch die entfernteren natürlichen Nachwirkungen wenigstens unsrer gewöhnlichsten Produktionshandlungen kennen und damit beherrschen zu lernen.

Je mehr dies aber geschieht, desto mehr werden sich die Menschen wieder als Eins mit der Natur nicht nur fühlen, sondern auch wissen, und je unmöglicher wird jene widersinnige und widernatürliche Vorstellung von einem Gegensatz zwischen Geist und Materie, Mensch und Natur, Seele und Leib, wie sie seit dem Verfall des klassischen Altertums in Europa aufgekommen und im Christentum ihre höchste Ausbildung erhalten hat.“

Friedrich Engels, Dialektik der Natur, geschrieben zwischen 1873 und 1882