Von Andrej Hunko

Die Duma-Wahlen am Wochenende in Russland verdienen mehr Aufmerksamkeit. Nach Umfragen verliert die regierende Partei Einiges Russland drastisch, während vor allem die Kommunistische Partei (KPRF) zulegt. Entsprechend angespannt ist die Atmosphäre kurz vor dem Wahlgang. Die Moscow Times titelte am 14. September als Zitat: „Ein Linksruck ist unvermeidlich“.

Auch wenn die Rolle des Parlaments in Russland deutlich weniger bedeutend ist als etwa in Deutschland als parlamentarische Demokratie, können die kommenden Wahlen in die Staatsduma eine außerordentliche innenpolitische Tragweite haben. Die im September 2021 gewählten Abgeordneten werden die russische Legislative bis 2026 bestimmen. Genau in diesem Zeitraum, nämlich im Jahre 2024, wird die Wahlperiode von Präsident Wladimir Putin enden. Ob er dann sein Amt verlässt oder wieder als Präsident kandidiert (zu dem Zeitpunkt im Alter von 72 Jahren) ist noch unklar und Gegenstand von Spekulationen mancher Politologen. Die Verfassungsänderung von 2020 sieht diese Möglichkeit für ihn explizit vor, denn seine bisherigen Amtszeiten wurden annulliert.

Unabhängig davon, ob Putin versucht, seine Amtszeit bis 2036 zu verlängern, oder sich für einen ihm genehmen Nachfolger entscheidet, wäre es für den Kreml auf alle Fälle ungünstig, in dieser Zeit ein renitentes Parlament mit einer oppositionellen Mehrheit zu bekommen. Mit ihrem offiziellen Status, mit parlamentarischen Instrumenten und der Abgeordnetenimmunität könnten vor allem neue junge Politiker für den Kreml zu einer Herausforderung werden.

Repression

Dieser Sachverhalt erklärt die angespannte Atmosphäre vor den anstehenden Wahlen. Die liberale Opposition um Alexej Nawalny ist stark geschwächt, jedoch unter jungen unzufriedenen Menschen immer noch einflussreich: Während Nawalny selbst in der Strafkolonie in Pokrow sitzt, befindet sich der größte Teil seines Teams im Exil. Unter Druck geraten sind allerdings nicht nur prowestlich orientierte Oppositionelle, sondern auch linke politische Kräfte in Russland. Exemplarisch etwa der von der KPRF unterstützte Agrarunternehmer Pawel Grudinin oder der Anführer der „Bewegung für den neuen Sozialismus“, Nikolaj Platoschkin. Dasselbe gilt für den Koordinator der „Linken Front“, Sergej Udalzow, den Blogger Nikolaj Bondarenko (KPRF) oder den ehemaligen Gouverneur der Region Irkutsk, Sergej Lewtschenko (ebenfalls KPRF). Auch der Ausschluss und die weit verbreitete administrative Schikane gegen viele Kandidaten deuten auf eine Nervosität in der von der Regierungspartei dominierten staatlichen Verwaltung hin.

Smart voting

Das repressive Verhalten russischer Behörden gegenüber der Opposition von so unterschiedlicher Couleur scheint diese zu motivieren, im Kampf gegen die Regierungspartei nach Zweckbündnissen zu suchen. So unterstützt das Nawalny-Team – sicherlich zähneknirschend – durch ihr „Smart Voting“ auch und vor allem die aussichtsreichsten KPRF-Kandidaten gegen die Regierungspartei. Das Kalkül: Wenn es gelingt, dass in größerer Zahl Kandidaten der Opposition gegen das Regierungslager gewinnen, würde das die Position Putins deutlich schwächen. Dies auch, obwohl das Nawalny-Team Parteien wie die KPRF, „Gerechtes Russland“ und LDPR als „Systemopposition“ sieht.

Von den 225 Direktmandaten unterstützen die Nawalny-Anhänger 137 der KPRF, 48 der eher sozialdemokratisch orientierten Partei „Gerechtes Russland-Patrioten-Für Wahrheit“, 20 der geschwächten rechtspopulistischen LDPR von Schirinowski und nur 10 Kandidaten der prowestlich-liberalen Partei Jabloko. Die Parteistimmen sollen laut Nawalny-Aufruf an die drei parlamentarisch vertretenen Parteien KPRF, GR und LPDR gehen, die als Einzige aussichtsreich die 5%-Hürde überspringen können.

Soziale Frage

Der drastische Popularitätsrückgang der konservativen Regierungspartei Einiges Russland, vergleichbar etwa mit dem hiesigen Absturz der CDU/CSU, ist vor allem auf soziale Fragen zurückzuführen, die die öffentliche Debatte dominieren: Die Rentenreform, der Umgang mit der Pandemie und ihre Folgen, Rezession, sinkende Reallöhne, steigende Preise, Waldbrände etc. haben das Vertrauen in die Partei der russischen Nomenklatura stark geschwächt. Laut dem staatlichen Meinungsforschungszentrum WZIOM betrugen die Zustimmungswerte von Einiges Russland am 6. August nur noch 27,8%. Zum Vergleich: Mitte Dezember 2016 waren es noch 46,9%.

In diesem Kontext bietet sich für die russische Linke mit ihren traditionellen Themen wie soziale Gerechtigkeit oder Armutsbekämpfung eine besondere Chance, bei diesen Parlamentswahlen ein gutes Resultat zu erringen. Hier insbesondere die KPRF, die nach jüngsten Umfragen auf mehr als 20% Unterstützung hoffen darf, verglichen mit 13,3% bei den letzten Wahlen 2016.

Alles Systemopposition?

In Deutschland wird die KPRF, ebenso wie die anderen im Parlament vertretenen Parteien, meist nur als „Systemopposition“, also als Kreml-loyal, gesehen und entsprechend ignoriert. Dass die Wirklichkeit etwas komplexer ist, zeigt nicht nur die Repression, der ihre Kandidatinnen und Kandidaten ausgesetzt sind. Die großen Proteste gegen die Rentenkürzungen wurden maßgeblich von der KPRF organisiert. Bei den Listenaufstellungen konnten sich auch junge und unabhängige Kandidat/innen durchsetzen, die nicht viel mit der in der Partei verbreiteten Sowjetnostalgie zu tun haben. Von den vier im Parlament in Fraktionsstärke vertretenen Parteien ist die KPRF zweifellos die unbequemste.

Wahlmanipulationen?

Russland ist nicht Belarus. Die Möglichkeiten zur Manipulation der Wahlen in Russland sind trotz autoritärer Entwicklungen in den letzten Jahren erheblich eingeschränkter als die in Belarus. Aber sie existieren. Neben der Nicht-Zulassung prominenter Kandidaten wie Grudinin und eines enger werdenden Mediendiskurses bietet insbesondere der mit der Pandemie begründete dreitägige Wahlzeitraum (von Freitag bis Sonntag) und das vor allem in Moskau eingeführte elektronische Wählen Raum für direkte Manipulationen. Gleichwohl sind, im Unterschied etwa zu Belarus, in den meisten lokalen Wahlkomitees Vertreterinnen und Vertreter verschiedener Parteien anwesend und können auch lokale Wahlbeobachter schicken.

Internationale Wahlbeobachter

Traditionell laden die russischen Behörden internationale Wahlbeobachtungsmissionen, etwa der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) und des Europarats, aber auch anderer internationaler Organisationen, ein. Mit Verweis auf Corona hatte die Zentrale Wahlkommission jedoch die Zahl ausländischer Beobachter/innen auf insgesamt 300 beschränkt und die der OSZE auf 60. Das hätte etwa der Größenordnung der OSZE-Wahlbeobachtungsmission bei den Präsidentschaftswahlen in den USA entsprochen, die ebenfalls Corona-bedingt eingeschränkt war. Die OSZE wollte jedoch 500 Beobachterinnen und Beobachter schicken und sagte deshalb ihre Wahlbeobachtung am 4. August vollständig ab. Das ist bedauerlich, entspricht aber den Statuten der OSZE, demnach die Anzahl ausschließlich von der OSZE festgelegt wird. Der Europarat wiederum hat daraufhin entschieden, nur eine kleine Delegation mit einem Vertreter aus allen Fraktionen zu schicken, die nicht den Anspruch erhebt, eine vollständige Wahlbeobachtungsmission zu sein.

Dieser weitgehende Verzicht der beiden internationalen Organisationen, die noch am neutralsten gelten können, auf eine ernsthafte Wahlbeobachtung ist außerordentlich bedauerlich, erleichtert er doch mögliche Manipulationen oder Unregelmäßigkeiten. Es ist vielfach erwiesen, dass die Präsenz internationaler Wahlbeobachtungsmissionen einen signifikant positiven Effekt auf Wahlen hat.

Anerkennung der Wahl?

Schon jetzt werden Stimmen laut, etwa im EU-Parlament, die fordern, nicht nur mögliche Manipulationen oder Repressionen zu kritisieren, sondern auch die gesamte Parlamentswahl nicht anzuerkennen und den gewählten russischen Abgeordneten, damit auch denen der Opposition, die Teilnahme an internationalen Organisationen wie dem Europarat zu verwehren, sollte Betrug festgestellt werden. Die Frage ist nur, wer dann „Betrug“ definiert, wenn keine international anerkannten unabhängigen Wahlbeobachter im Land sind. Ein solches Vorgehen in Richtung weiterer Isolierung würde zweifellos die autoritären Entwicklungen in Russland beschleunigen.