Logo der Allianz NUPES aus FrankreichIn Frankreich werden am 12. und 19. Juni die Abgeordneten der nächsten Nationalversammlung gewählt. Erstmalig hat ein klar links geprägtes Bündnis die Chance, stärkste Kraft zu werden und den Premierminister zu stellen. Das französische Mehrheitswahlrecht macht es kleinen Parteien sehr schwer, überhaupt im Parlament repräsentiert zu werden. Nach dem starken Ergebnis von Jean-Luc Mélenchon bei der Präsidentschaftswahl im April, gelang es ihm und der linken La France Insoumise (FI) eine Allianz mit der Sozialistischen Partei, Europe Écologie-Les Verts, der Kommunistischen Partei (PCF) und anderen zu schmieden. Dadurch könnten die Hürden des Mehrheitswahlrechts überwunden werden.

Die „Neue ökologische und soziale Volksunion“ (NUPES) hat reale Chancen auf einen Wahlsieg. Doch wofür steht sie? Erste Meldungen in deutschen Medien beschrieben das Bündnis schnell als „anti-europäisch“ (gemeint ist: kritisch zur neoliberalen Verfasstheit der Europäischen Union). Weil die Wahl in Frankreich auch für die europapolitische Debatte von großer Bedeutung ist, habe ich den Sprachendienst des Bundestages um eine Übersetzung eines Teils des Wahlprogramms gebeten. An dieser Stelle dokumentiere ich den Text, in dem es um die Positionen zur EU, Europa und zu internationalen Fragen geht. So kann sich, wer will, selbst ein Bild machen.

Andrej Hunko, 7. Juni 2022

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Kapitel 8: Europäische Union und Internationales

Wir teilen das gemeinsame Ziel, den marktliberalen und wirtschaftsorientierten Kurs der Europäischen Union zu verlassen und ein neues Projekt zur Erreichung der ökologischen, demokratischen und solidarischen Wende aufzubauen, auch wenn sich unsere jeweiligen Haltungen zur europäischen Integration voneinander unterscheiden.

La France insoumise und die Kommunistische Partei Frankreichs stehen in der Tradition des Neins der Linken zum Europäischen Verfassungsvertrag von 2005; die Sozialistische Partei bekennt sich zur europäischen Integration und ihren Errungenschaften, bei denen sie eine Schlüsselrolle spielte; und Europe Écologie-Les Verts befürwortet seit jeher den Aufbau eines föderalen Europas.

Gemeinsam wollen wir die europäische Politik auf soziale Gerechtigkeit, Umweltschutz, gesellschaftlichen Fortschritt und die Weiterentwicklung der staatlichen Daseinsvorsorge ausrichten.

Dafür machen wir folgende Vorschläge:

Uns ist klar, dass einige dieser Forderungen eine Neuverhandlung der derzeitigen europäischen Verträge und Regelungen erfordern. Denn auch wenn manche europäische Regeln sinnvoll sind, ist offensichtlich, dass viele andere, gerade auch besonders wichtige, den ökologischen und sozialen Herausforderungen nicht gerecht werden und die Umsetzung unseres Programms erheblich behindern:

Daher müssen wir bereit sein, bestimmte Regeln bewusst zu missachten. Aufgrund unserer jeweiligen Traditionen spricht die eine Partei von Ungehorsam, die andere von einem vorübergehenden Abweichen von den Regeln, aber wir streben dasselbe Ziel an: in der Lage zu sein, das gemeinsame Regierungsprogramm vollständig umzusetzen und so das Mandat, das uns die Franzosen erteilen werden, zu erfüllen.

Dies ist kein eigenständiges politisches Ziel, sondern ein Instrument. Zahlreiche Mitgliedstaaten nutzen es bereits, z. B. Deutschland, das damit den Wassersektor vor Wettbewerb schützt, eine Staatengruppe, die damit gentechnisch veränderte Organismen verbietet, oder auch Spanien, das damit gegen die explodierenden Energiepreise vorgeht. Dies muss natürlich unter Beachtung des Rechtsstaats geschehen. In diesem Sinne stellen wir uns vehement der autoritären Entwicklung in Polen und Ungarn entgegen, die in autoritärer und reaktionärer Absicht die Grundrechte und Grundfreiheiten angreifen.

Wir wollen:

Wir werden aktiv an einer umfassenden Änderung der Regeln arbeiten, die mit unserem Programm unvereinbar sind, und zwar mithilfe von Verhandlungen, Machtgleichgewichten und Kooperationen mit variabler Geometrie. Immer wieder mussten in Krisen Regeln geändert werden: Als Reaktion auf die Finanzkrise 2008 hat die EZB ihr Programm zum Ankauf von Staatsschulden aufgelegt; während der Pandemie wurden z. B. die Haushaltsregeln und die Regeln für staatliche Beihilfen von der Europäischen Kommission ausgesetzt. Das verdeutlicht, dass Flexibilität notwendig ist.

Die Tatsache, dass die europäischen Regeln als Reaktion auf diese Krisen in Frage gestellt wurden, spielt uns in die Hände. Unser Ziel ist es, auch andere Staaten zu überzeugen, um mit ihnen zusammen als Regierung die europäische Politik neu auszurichten und die europäischen Regeln und Verträge, die mit unseren vom Volk legitimierten sozialen und ökologischen Zielen unvereinbar sind, dauerhaft zu ändern. Ein Land wie Frankreich verfügt über Argumente, Mittel und das politische Gewicht, um für neue gemeinsame Ziele in Europa einzutreten. Es kann z. B.:

Diese Auseinandersetzungen werden notwendig sein, aber allein noch nicht ausreichen. Um der ökologischen und sozialen Krise Rechnung zu tragen, müssen sich die europäischen Institutionen und Regeln grundlegend ändern. Wir wollen der EU einen Demokratieschub verleihen, indem wir einen europäischen Konvent zur Überarbeitung und Neufassung der europäischen Verträge einberufen, der gemeinsam mit den nationalen Parlamenten und dem Europäischen Parlament eingerichtet wird und die aktiven Bürgerbewegungen aller Mitgliedstaaten einbindet. Die neuen Texte müssen dann dem Volk in einem Referendum zur Zustimmung vorgelegt werden.

Ein unabhängiger Platz für Frankreich in der Welt

Aufbau einer unabhängigen, republikanischen und volksnahen Verteidigung

Stärkung und Demokratisierung der Vereinten Nationen

Neugestaltung der wirtschaftlichen Zusammenarbeit

Ausweitung des völkerrechtlichen Schutzes auf globale öffentliche Güter

Eine humanistische und realistische Migrationspolitik

Gestaltung der internationalen Politik von den Überseegebieten aus

Aufbau von solidarischen und globalisierungskritischen Kooperationen

Annäherung des westlichen Mittelmeerraums durch gemeinsame Fortschrittsziele

Aufbau einer Beziehung zu Afrika auf der Grundlage der Souveränität der Völker

Förderung der französischen Sprache

Weitere Erkundung des Weltraums

Themen, die dem Parlament vorbehalten bleiben sollten

Im Institutionengefüge der Fünften Republik, in dem der Präsident Abkommen aushandelt und unterzeichnet, kann keine Regierung Entscheidungen dieser Art ohne ihn treffen. Auch besteht Einigkeit darüber, dass Frankreich im nationalen Interesse außenpolitisch mit einer Stimme sprechen sollte. Dennoch muss intern die Debatte mit dem Präsidenten möglich sein. Dabei vertreten wir folgende Standpunkte.

La France insoumise schlägt den sofortigen Austritt Frankreichs aus der integrierten Kommandostruktur der NATO und dann schrittweise aus der NATO selbst vor. Auch lehnt FI den Beitritt Frankreichs zu einem ständigen Militärbündnis im indisch-pazifischen Raum und anderswo sowie jede militärische Intervention ohne UN-Mandat ab. FI tritt für die Idee ein, ein neues globalisierungskritisches Bündnis zu bilden.

Die Kommunistische Partei Frankreichs unterstützt den Rückzug Frankreichs aus der integrierten Kommandostruktur der NATO und deren anschließende Auflösung. Sie schlägt vor, dass Frankreich die Initiative für eine gesamteuropäische Konferenz zur Schaffung eines gemeinsamen Raums des Friedens und der kollektiven Sicherheit in Europa auf der Grundlage der Schlussakte von Helsinki und der Charta von Paris von 1990 ergreift. Auch tritt sie für die Beibehaltung der Kernenergie in der europäischen Taxonomie ein.

La France insoumise und die Kommunistische Partei Frankreichs schlagen vor, im Anschluss an eine Debatte im Parlament und zusammen mit den betroffenen souveränen Staaten einen Zeitplan für den Rückzug des französischen Militärs von seinen Operationen in der Sahelzone zu beschließen.

Europe Ecologie-Les Verts und die Sozialistische Partei befürworten eine verstärkte militärische Zusammenarbeit auf EU-Ebene, die Errichtung eines operativen europäischen Militärkommandos sowie die Ausweitung der Waffenlieferungen an die Ukraine und die Verhängung eines vollständigen und sofortigen Embargos auf russische Öl-, Kohle-, Kernbrennstoff- und Gasimporte.

Die Sozialistische Partei tritt für den Verbleib Frankreichs in der NATO ein.

 

Quelle des Textes: https://nupes-2022.fr/le-programme/
Übersetzung: Sprachendienst des deutschen Bundestags im Auftrag von Andrej Hunko, MdB DIE LINKE

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