Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Interview mit Andrej Hunko nach dem Putschversuch in der Türkei

Neue Richter, neues Militär und Massenentlassungen - das sind die Reaktionen Erdoğans auf den misslungenen Militärputsch. Kann und darf die EU da noch gegenwirken? "Das Ganze hat mit Rechtsstaatlichkeit nichts zu tun", sagt Andrej Hunko, europapolitischer Sprecher der LINKE im Bundestag. Er fordert klare Reaktionen aus Brüssel.


Herr Hunko, verlieren wir gerade ein demokratisches Land in Europa, oder haben wir die Türkei bereits verloren?

Eine richtige Demokratie war die Türkei natürlich auch vorher nicht. Aber was gerade stattfindet, als Reaktion auf den sehr merkwürdigen und dilettantischen Putschversuch, ist ja wiederum ein Putsch von Erdoğan. Manchmal wird das auch als ziviler Putsch bezeichnet, obwohl ich das Wort nicht so mag, weil es sich so freundlich anhört. Aber es macht natürlich allergrößte Sorge, dass die Türkei möglicherweise auf dem Weg in eine Diktatur ist, dass die Todesstrafe möglicherweise wieder eingeführt werden soll – das ist höchst besorgniserregend! Und ich finde, dass hier eine klare Verurteilung dieser Vorgänge, die jetzt in der Türkei stattfinden, auch durch die Bundesregierung notwendig wäre.

Nun war der Militärputsch am Wochenende bereits der vierte seiner Art in der Türkei. War das in irgendeiner Form für Sie abzusehen?

Ich bin ganz ehrlich: Ich war völlig überrascht, als ich die Meldung am Freitagabend gehört habe. Ich hab natürlich dann nochmal nachrecherchiert und es gab durchaus schon Diskussionen, auch im Vorfeld, dass ein möglicher Putsch bevorstünde. Ich hatte das nicht wahrgenommen, aber die Diskussion gab es durchaus, auch in den USA, auch in Fachmagazinen in Deutschland.

Aber man muss auch sagen, dass das, was sich in der Nacht von Freitag auf Samstag abgespielt hat, verglichen mit den anderen Militärputschen in der Türkei – 1960, 1971, 1980 – doch ausgesprochen dilettantisch war und offenbar auch die Regierung Erdoğan sehr gut darauf vorbereitet war.

Mehrere Experten sind sich sogar sicher, der Putsch könne von Präsident Erdoğan und seinen Sicherheitskräften inszeniert worden sein. Spricht etwas für Sie dafür?

Ich glaube nicht, dass so ein Putsch vollständig zu inszenieren ist – es hängen einfach zu viele Menschenleben daran. Ich vermute eher, dass die Regierung Erdoğan über entsprechende Pläne informiert war und vielleicht dann die Putschwilligen in eine Falle gelockt hat.

Es ist eher eine Kombination von: Man weiß, da ist etwas geplant und das kann uns am Ende nützen und man bereitet sich entsprechend darauf vor. Das kann ich mir gut vorstellen.

Die Regierung in Ankara bringt nun die Wiedereinführung der Todesstrafe ins Gespräch. Aus EU-Kreisen wird dies scharf verurteilt. Welche Konsequenzen muss Brüssel ganz konkret aus dem Putsch in der Türkei jetzt ziehen?

Ich finde, was jetzt in der Folge dieses Putschversuches von Erdoğan gemacht wird – die Entlassung von fast 3.000 Richtern und die Inhaftierung von Tausenden anderen, die jetzt erstmal gar nichts direkt mit dem Militär zu tun haben – das zeigt, dass hier eine Situation vorbereitet war. Und das Ganze hat mit Rechtsstaatlichkeit überhaupt nichts zu tun. Ich finde, auch das muss ebenso deutlich verurteilt werden, wie der Putschversuch.

Und das findet von EU-Seite oder vonseiten der Bundesregierung leider nicht statt. Es gibt zwar mahnende Worte, aber eben keine klare Verurteilung. Ich finde, unter diesen Bedingungen müssten auch die Beitrittsverhandlungen mit der EU auf Eis gelegt werden. Ich sage nicht, die Verhandlungen müssten völlig abgebrochen werden – ich finde den Prozess wichtig.

Und wenn es zur Wiedereinführung der Todesstrafe kommt — vielleicht wird ja ein Referendum dazu stattfinden – dann ist es völlig klar, dass natürlich die Beitrittsverhandlungen zu Ende sind und auch die Türkei aus dem Europarat ausgeschlossen werden müsste. Denn der Europarat hat die Abschaffung der Todesstrafe als Mitgliedsbedingung.

Während des Militärputsches hatte der Religionsminister der Türkei alle Imame des Landes angewiesen, das türkische Volk per Lautsprecher gegen das Militär aufzubringen. Wurde hier die Religion auch als Waffe der Regierung genutzt?

Eindeutig. Es ist ja Teil dessen, was ich als Vorbereitung der Regierung auf diese Situation beschrieben habe. Die Imame haben das Volk sozusagen mobilisiert, wobei man da nochmal genauer hinschauen müsste, wie groß diese Mobilisierung war – ich habe da bislang keine genauen Zahlen finden können.

An viele Bürger wurden ja auch SMS mit dieser Aufforderung verschickt. Die Reaktion der Regierung war also sehr umfangreich und natürlich wurde hier auch die Religion als Instrument missbraucht. Aber das erwarten wir ja auch von Erdoğan und seiner Regierung. Das ist ja ein Teil des Problems dieser AKP-Regierung.

Richter und Militärs wurden verhaftet und neue Personen an ihrer Stelle ernannt, Kirche und Staat sind immer enger verzahnt. Wohin steuert die Türkei und ist das überhaupt noch aufzuhalten?

Ich denke, dass es immer möglich ist, so etwas aufzuhalten. Es ist ja auch nicht so gewesen, dass die AKP bei den vergangenen Wahlen einfach nur einen Siegeszug verzeichnen konnte – die Türkei ist zutiefst gespalten und es gibt auch in der türkischen Gesellschaft sehr viel Opposition und sehr viel Unruhe angesichts dieser Entwicklung.

Hier wäre es auch wirklich wichtig, dass es klare Botschaften des Westens gibt — auch des Europarates, der sich zu den Reaktionen bislang in Schweigen hüllt. Das ist natürlich eine ganz, ganz gefährliche Entwicklung.

Es fällt ja auch auf, dass die türkische Regierung sehr massiv die USA beschuldigt, angeblich beteiligt gewesen zu sein. Ein Nato-Mitglied beschuldigt also ein anderes, sozusagen den Putsch mit inszeniert zu haben. Ich halte das für sehr unwahrscheinlich, aber das zeigt, wie tief zerklüftet die politische Landschaft in der Türkei ist.

Wir stehen auf jeden Fall vor einer sehr, sehr spannenden Entwicklung und ich glaube, es braucht auch Solidarisierung mit den wirklich demokratischen Kräften in der Türkei.

Interview: Marcel Joppa, 20.07.2016
Quelle: http://de.sputniknews.com/politik/20160720/311611024/hunko-sieht-zivilen-putsch-erdogans.html

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko