Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

von Martin Dolzer

Die aktuelle Lage in den kurdischen Provinzen der Türkei ist von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, Repression und Kriegsverbrechen durch das türkische Militär und Sondereinheiten der Jandarma geprägt.
Trotz eines einseitigen, nur kurzzeitig aufgrund der andauernden Kriegs- und Repressionspolitik des türkischen Staates unterbrochenen, Waffenstillstands der PKK, finden seit Monaten fast täglich Militäroperationen und Übergriffe staatlicher Kräfte auf die Zivilbevölkerung statt. ...

Zeitraum der Reise: 18.08.2010 -27.08.2010

Orte: Diyarbakir, Siirt, Hakkari, Semdinli, Yüksekova, Dersim

GesprächspartnerInnen: BürgermeisterIn nen, MenschenrechtlerInnen, BDP Parlamentsabgeordnete, BDP KommunalpolitikerInnen, Polizeibeamte, Angestellte der Gefängnisverwaltungen, Staatsanwaltschaft Diyarbakir, Angestellte von Stadtverwaltungen, Anwälte, Gefangenenhilfsvereine, Frauenvereine, Ökologische Initiativen

TeilnehmerInnen der Reise: erster Teil; Diyarbakir:

Jürgen Klute MdEP, Ingrid Remmers, MdB, Ali Atalan MdL NRW, Bärbel Beuermann, MdL NRW, Derya Kilic, Mitglied im Landesvorstand Die Linke NRW, Serdar Agit Boztemur, Delegierter des Jugendverbands solid NRW, Michael Knapp, Menschenrechtler, Delegierter der MdL Bärbel Beuermann und Martin Dolzer Soziologe und Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter des MdB und Md Europarats Andrej Hunko. zweiter Teil; Siirt, Hakkari, Semdinli, Dersim: Michael Knapp, Menschenrechtler, Delegierter der MdL Bärbel Beuermann und Martin Dolzer Soziologe und Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter des MdB und Md EuroparatsAndrej Hunko.

Bewertung der momentanen Situation

Die aktuelle Lage in den kurdischen Provinzen der Türkei ist von gravierenden Menschenrechtsverletzungen, Repression und Kriegsverbrechen durch das türkische Militär und Sondereinheiten der Jandarma geprägt.

Trotz eines einseitigen, nur kurzzeitig aufgrund der andauernden Kriegs- und Repressionspolitik des türkischen Staates unterbrochenen, Waffenstillstands der PKK, finden seit Monaten fast täglich Militäroperationen und Übergriffe staatlicher Kräfte auf die Zivilbevälkerung statt. Im ersten Halbjahr 2010 kam es in diesem Rahmen zu mehr als 20 extralegalen Hinrichtungen durch staatliche und paramilitärische Kräfte. In den letzten 3 Monaten häufen sich zudem Berichte über den Einsatz chemischer Waffen und postmortale Verstümmelungen durch das türkische Militär. Auch gelegte Waldbrände und der Einsatz von giftigen Entlaubungsmitteln wurden gehäuft dokumentiert.

Psychologische Kriegsführung wird als weiteres Mittel der Auseinandersetzung in unterschiedlich starker Ausprägung genutzt. In der Metropole Diyarbakir starten ständig F 16 Bomber, in Dersim und Hakkari oft ca. 30 Militärhubschrauber täglich. Zudem wurden seit April 2009 mehr als 1680 PolitikerInnen der Demokratischen Friedenspartei (BDP) und deren mittlerweile verbotenen Vorgängerpartei DTP, MenschenrechtlerInnen, Frauenaktivistinnen und Jugendliche inhaftiert. Erste Prozesse beginnen am 18.10.2010 in Diyarbakir. Auf diese Weise versucht der türkische Staat scheinbar sämtliche regional und international erfolgreich politisch Tätigen auszuschalten. Besonders internationale Kontakte werden negativ sanktioniert. Vorgeworfen wird den Aktiven die Mitgliedschaft in den KCK / PKK Strukturen. Als Legitimation müssen dafür menschenrechtliches Engagement, der Einsatz für kulturelle Rechte, Besuche in Europäischen Einrichtungen oder Parlamenten, der Kontakt zu internationalen Journalisten oder Delegationen herhalten.

Eine differenzierte Berichterstattung ist anscheinend nicht gewünscht und wird mit allen Mitteln bekämpft. Zurzeit sind die zwei auflagenstärksten kurdischen Zeitungen verboten. Dem amerikanischen Menschenrechtsaktivisten Jake Hess, der 10 Tage wegen kritischer Artikel über Kriegsverbrechen und


Menschenrechtsverletzungen unter gleichen Vorwänden wie die 1680 o.g. Menschen inhaftiert und dann abgeschoben wurde, verdeutlichten die Behörden, dass jeder Mensch mit dem er künftig in der Türkei Kontakt aufnimmt in KCK Verdacht gerate. Der Ansprechpartner unserer Delegation in Hakkari, Bülent Armut, wurde aus dem Auto, in dem er die Delegation begleitete, verhaftet (siehe Unten).

Auch Folter ist in den kurdischen Provinzen, besonders in Hakkari, Sirnak und Siirt an der Tagesordnung. Besonders davon betroffen sind JournalistInnen, MenschenrechtlerInnen und politisch Tätige. In Kleinstädten ist zusätzlich die Belästigung und Vergewaltigung von Frauen durch Sicherheitskräfte ein großes Problem. Erschreckend ist in sämtlichen genannten Zusammenhängen die Straflosigkeit von Tätern aus den Reihen von Behörden Sicherheitskräften. (siehe dazu auch die Studie von Human Rights Watch: Closing Ranks against Accountability/Barriers to Tackling Police Violence in Turkey).

Der einseitige Waffenstillstand der PKK wurde von sämtlichen Abgeordneten, BürgermeisterInnen und kurdischen GesprächspartnerInnen begrüßt und als historische Chance gewertet, den türkisch ‐ kurdischen Konflikt zu lösen. Grundsätzlich wäre allerdings notwendig, die Unterdrückungspolitik sowie die Nichtanerkennung der Existenz der kurdischen Bevölkerung und ihrer Freiheitsrechte durch den türkischen Staat zu beenden. Deutlich wurde, dass es den kurdischen PolitikerInnen nicht um einen eigenständigen Staat, sondern um eine Demokratisierung der Türkei, mit dem Ziel der Etablierung möglichst basisdemokratischer kommunaler Verwa ltu ngsstru kturen geht, in denen türkeiweit sämtliche religiösen und kulturellen Identitäten ihre Repräsentation finden.

Die Situation von KommunalpolitikerInnen

Da z.b. der Bürgermeister der Stadt Diyarbakir, Osman Baydemir, die o.g. Forderungen immer wieder betont und für eine friedliche Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts eintritt, wird ihm unterstellt, dass er als Teil der PKK agiere, da diese die gleichen Ziele habe. Durch mehrere Prozesse ist er, wie sämtliche weiteren BürgermeisterInnen der Region, von langjähriger bis lebenslänglicher Haft bedroht. Baydemir hat zudem ein Ausreiseverbot. Mehrfach gab es Morddrohungen und versuchte Bombenanschläge durch faschistische Kräfte. Erst vor wenigen Wochen wurde in der Kleinstadt Tunceli/Dersim eine Zeitbombe unter dem Saal, in dem der Politiker vor 500 Menschen, darunter viele Frauen und Kinder, redete, gelegt. Die Bombe, die zum Zeitpunkt seiner Rede detonieren sollte, hatte glücklicherweise einen Defekt.

Auch der Bezirksbürgermeister von Diyarbakir Sur, Abdullah Demirba ş, wird kriminalisiert. Schon in der vorherigen Amtszeit, war er seines Amtes enthoben worden, weil er u.a. Informationen der Stadtverwaltung neben Türkisch, Englisch, Armenisch und Arabisch auch in kurdischer Sprache zur Verfügung stellte und im Europaparlament Multilinguale Verwaltungskonzepte vorstellte. Sein multiliguales und friedenspolitisches Engagement sowie die Teilnahme an Pressekonferenzen werden als Führungsfunktion in einer Terroristischen Vereinigung interpretiert. Er saß im Rahmen der Repressionswelle ab April 2009 trotz lebensbedrohender Krankheit mehrere Monate im Gefängnis und wurde u.a. aufgrund anhaltenden internationalen Drucks vor wenigen Wochen haftverschont.

Die BürgermeisterInnen von Siirt, Hakkari, Semdinli, Yüksekova und Dersim befinden sich in einer ähnlichen Situation. Gegen jede/n von ihnen wurden meist mit deckungsgleicher Argumentation mehrere Verfahren mit der Forderung nach hohen Haftstrafen eröffnet. Während die EU Gremien seit Jahren eine derartige Praxis kritisieren, wird diese in der Türkei erneut verschärft.


Jugendstrafrecht

Die Liberalisierung des Jugendstrafrechts, stellt keine substantielle Veränderung der Lage dar. Trotz der symbolischen Freilassungen einiger Kinder und Jugendlicher, die vermeintlich auf Demonstrationen Steine geworfen hatten und der Durchführung der Verfahren vor Jugendgerichtskammern anstatt vor Schwurgerichten für Erwachsene, wird die Verurteilung der Kinder nach dem Antiterrorgesetz aufrecht erhalten. Daraus resultieren weiterhin langjährige Haftstrafen. Mehr als 470 Kinder sind inhaftiert. Weiterhin findet Folter von Kindern und Jugendlichen, u.a. im Gefängnis von Adana, aber auch bei Verlegungen, häufig und systematisch statt.

Die Logik der Kriminalisierung

1. Beispiel

Der Vorsitzende des Büros des IHD Diyarbakir, Muharem Erbey befindet sich seit 240 Tagen in Haft. Ebenso seine beiden Vertreter. Ihnen wird u.a. vorgeworfen, ausländischen Delegationen statistisches Material über Menschenrechtsverletzungen in der Türkei zur Verfügung gestellt zu haben. In diesem Rahmen wird nicht nur gegen den IHD, sondern gegen sämtliche

MenschenrechtlerInnen vorgegangen, u.a. damit keine Nachrichten über Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen ins Ausland gelangen. Alle Aktiven des IHD sind von Festnahme bedroht, insbesondere wenn sie sich mit Verantwortlichen aus anderen Ländern treffen um die Situation der Bevölkerung zu thematisieren.

2. Beispiel

Mehrere JournalistInnen sind im Moment aufgrund der Verbreitung menschenrechtspolitischer Themen inhaftiert. Unter ihnen die Journalistin Hamdiye Ciftci aus Hakkari, die allein wegen mehrerer Artikel über gravierende Menschenrechtsverstöße in der Provinz Hakkari auf Grundlage des Antiterrorgesetzes verhaftet wurde.

3. Beispiel

U.a. der ehemalige Bürgermeister von Batman Hüsseyin Kalkan, der Bürgermeister von Cizre Aydun Budak und der ehemalige Parlamentsabgeordnete Hatip Dicle, wie viele weitere gewählte VertreteInnen, sind wegen ihrem Einsatz für die Menschenrechte und den Frieden mit der gleichen Logik, wie im Fall Baydemir beschrieben, seit April 2009 inhaftiert.

4. Beispiel

Das Stadtratsmitglied und ehem. zweite Bürgermeister von Hakkari Bülent Armut wurde am 23. August am Kontrollpunkt vor der Stadt Hakkari von der „Anti Terror Polizei“ festgenommen. Die Delegationsmitglieder befanden sich gemeinsam mit dem BDP Politiker auf dem Rückweg von einer Beerdigung im gleichen Auto. Der Kontrollpunkt ist für seine menschenverachtenden Folterpraktiken bekannt. Hier befinden sich Militär, Polizei und Jitemeinheiten an einem Ort. Auch das unten genannte 3. Fallbeispiel (Folter, Vergewaltigung und Tötung nach Festnahme) kann mit großer Wahrscheinlichkeit dort stationierten „Sicherheitskräften“ zugeordnet werden.


Am 24. und 25. August wurde der Haftbefehl gegen Bülent Armut erneut verlängert. Anwälte konnten bis dahin keinen Kontakt zu dem Politiker aufnehmen. Am 25. August wurden fünf weitere PolitikerInnen, unter anderem der Vorsitzende der Gewerkschaft KESK, verhaftet. Als Delegation fordern wir die sofortige Freilassung des besonnen für den Frieden agierenden Politikers. (Unsere gemeinsam mit den MdEP, MdB und MdL, gesandte Protestnote im Anhang)

Die Realität, dass in den kurdischen Provinzen des Landes ein Grossteil der Bevölkerung durch persönliche Kontakte oder in der langjährigen militärischen Auseinandersetzung gefolterte oder getötete mit der PKK verbunden ist, lässt sich nicht leugnen. Auch dass die PKK sowie Abdullah Öcalan demzufolge in der Bevölkerung verankert sind und einen großen Rückhalt genießen, ist unübersehbar. Jede/r Politiker/in, die oder der sich ernsthaft mit der Situation auseinandersetzt oder versucht Zukunftsperspektiven zu entwickeln, muss mit dieser Realität umgehen. Folglich ist die Forderung der BDP in einen Friedensdialog mit sämtlichen am Konflikt Beteiligten einzutreten, nur logisch und im Sinne eines Friedens zielführend. Zudem kann nicht als Straftat gewertet werden die Realität zu benennen. Den Konflikt offen zu analysieren und entsprechende Lösungswege aufzuzeigen, wird jedoch vom türkischen Staat kriminalisiert.

Die Situation in den Gefängnissen der Türkei ist von Menschenrechtsverletzungen geprägt. Immer wieder wird von Folter berichtet. Viele Gefängnisse sind überbelegt. Angehörige werden bei Besuchen gezielt erniedrigt. Oft müssen sie sich nackt ausziehen und werden als Terroristen beschimpft. Kranken wird die notwendige medizinische Versorgung verwehrt. Die Verpflegung reicht bei weitem nicht aus und führt zu weiteren Krankheiten. Zudem sind die Gefängnisse meist nicht mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu erreichen. Mandantengespräche werden meist abgehört. Die Abgeordneten, Jürgen Klute, Ingrid Remmers, Bärbel Beuermann und Ali Atalan versuchten u.a. den Menschenrechtler Murharem Erbey zu besuchen. Dies wurde von der Staatsanwaltschaft und der Gefängnisverwaltung unter fadenscheinigen Begründungen verhindert.

Kriegsverbrechen

Schon seit Beginn der neunziger Jahren nutzt das türkische Militär illegale Kriegspraktiken, wie den Einsatz chemischer Waffen und die Verstümmelung gefallener GuerillakämpferInnen. Zwischen 2001 und 2009 gab es seltener Berichte darüber. In den letzten Monaten haben sich derartige Dokumentationen erneut besorgniserregend gehäuft.

Einige Beispiele:

1. Fall (Chemiewaffen)

Nahe der türkisch-irakischen Grenze, in der Provinz Hakkari, wurden zwischen dem 8. und 15. September letzten Jahres 8 Menschen - nach Betrachtung aller zugänglichen Fakten - Opfer eines Einsatzes von chemischen Kampfmitteln durch das türkische Militär.

Augenzeugen berichteten von dem Vorfall und beschrieben, dass Soldaten gasförmige, allem Anschein nach chemische Kampfstoffe in Form von Geschossen in eine Höhle in der Nähe der türkisch-irakischen Grenzstadt Cukurca (Provinz Hakkari) einbrachten und wenige Zeit später mehrere Menschen, Mitglieder der Guerilla der PKK, aus dieser Höhle bargen. Einige der bereits leblosen Körper wurden daraufhin zusätzlich von Panzerfahrzeugen überfahren und/oder erschossen.


Aus einem Gutachten eines Rechtsmedizinischen Instituts der Universitätsklinik Eppendorf in Hamburg im Zusammenhang mit dem Augenzeugenbericht können wir schließen, dass gegen die 8 von der türkischen Armee getöteten Personen mit großer Wahrscheinlichkeit chemische Waffen eingesetzt worden sind.

Menschenrechtler aus der Region hatten unserer letzten Menschenrechtsdelegation im März 2010, unter anderem Delegierten von Bundestags- und Landtagsabgeordneten und WissenschaftlerInnen, die Augenzeugenberichte übermittelt und Fotos aus dem Zeitraum kurz nach der Obduktion übergeben. Die Fotos sind nach Ansicht des Bildfälschungsexperten Hans Baumann authentisch. Bei einer Begutachtung fand Baumann keinerlei Hinweise auf eine Manipulation der Aufnahmen. Lichtverhältnisse, Details der Leichen und Kameradaten seien konsistent und in dieser Form praktisch nicht fälschbar. Nach weiterer Recherche können wir davon ausgehen, dass es sich bei den Toten um Rizgar Askan, Aziz Özer, Ramazan Yildiz, Kahraman Sex Ali, Yahya Musazade, Salih Güleç, Aliye Timur und Hanife Ali, im Alter von 19 bis 33 Jahren handelt.

Wir konnten dieses Kriegsverbrechen in Zusammenarbeit mit MdB, Die Linke Andrej Hunko einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen. Politiker mehrerer Bundestagsfraktionen forderten daraufhin unseren Ideen entsprechend eine internationale Untersuchungskommission.

2. Fall (Chemiewaffen)

Am 06. Juli 2010 wurden nahe der Stadt Hakkari Semdinli zwölf Guerillas bei einer militärischen Auseinandersetzung getötet. Die Leichen sind sämtlich auf eine unbeschreibliche Art und Weise aufgequollen wie Wasserleichen. Es handelt sich allerdings nicht um Wasserleichen. Es besteht ein erheblicher Verdacht, dass chemische Substanzen oder Waffen prä- oder postmortal zum Einsatz gekommen sind. Bei einem der Toten wurde der Kopf abgetrennt, bei weiteren Toten andere Körperteile verstümmelt. Fotos der Leichen sind vorhanden. Der Obduktionsbericht wurde bisher von der Staatsanwaltschaft nicht herausgegeben. Eine Klage und eine weitere Obduktion der Toten, sowie die Begutachtung der Fotos werden etwaig von MenschenrechtlerInnen angestrebt. In der Türkei haben derartige Klagen jedoch kaum eine Chance auf Erfolg.

3. Fall (Folter, Vergewaltigung und Tötung nach Festnahme)

7 Kilometer von Hakkari entfernt wurde am 06. August, mehreren übereinstimmenden Augen- und Ohrenzeugenberichten zufolge, eine zuvor mit drei weiteren Guerillas in ein Gefecht mit dem türkischen Militär verwickelte Frau, wahrscheinlich von Mitgliedern des Geheimdienstes Jitem, der für über 17.000 extralegale Hinrichtungen in den letzten Jahrzehnten verantwortlich gemacht wird, gefoltert, vergewaltigt und schließlich getötet. Es wurde beobachtet wie die Guerillaangehörige nach einem Gefecht, bei dem die drei weiteren Guerillas starben, nach ihrer Festnahme zu einem Platz in der Natur vor Hakkari Stadt gebracht wurde. Anschließend hörten mehrere Zeugen immer wieder fürchterliche Schreie und die Worte: „Tut das nicht, nein tut das nicht.“ Daraufhin brachte ein Konvoi von drei Autos der „Sicherheitskräfte“ die Betroffene an einen anderen Ort. Am folgenden Tag wurde die nun Tote mit den weiteren Guerillas in der Leichenhalle aufgebart. Eine Obduktion der Toten wird im Gegensatz zu den weiteren drei bis heute verweigert. Bei in Augenscheinnahme durch Mitglieder des Menschenrechtsvereins IHD wurden Spuren von Folter und einer Vergewaltigung erkannt. Hierbei


handelt sich um einen schwerwiegenden Verstoß gegen die Genfer Konventionen und die Menschenrechte.

4. Fall (Verbrennungen und Verstümmelungen)

Sevdin Nergiz wurde in Batman/Be şiri am 08.08.10 mit vier anderen Guerillas vom türkischen Militär getötet. Alle Leichen waren bis zur Unkenntlichkeit verbrannt. Sie wiesen des Weiteren Schussverletzungen und abgerissene Körperteile, bzw. herausgerissene Eingeweide auf. Sevdin Nergiz war bis zum Unterschenkel hin vollständig verbrannt, bzw. geschwärzt, seine Eingeweide befanden sich nicht mehr in seinem Körper, ein Arm fehlte vollständig. Ein Augenzeuge berichtete, dass die ganze Nacht über am Ort des Geschehens Schüsse zu hören waren. Das ganze Gebiet wurde mit Leuchtspurmunition erleuchtet. Später waren große Flammen zu sehen. Am Morgen nach dem Gefecht konnte der Zeuge beobachten, wie sich die Soldaten um die Gefallenen versammelten und die leblosen Körper mit Schüssen durchsiebt wurden.

Ob die Verletzungen durch Flammenwerfer, chemische oder anderen Waffen herbeigeführt wurden, lässt sich nur durch die Untersuchung des Falls von Seiten einer unabhängigen Kommission feststellen. Auch der Einsatz von Flammenwerfern Verstößt gegen die Konvention zum Einsatz besonders grausamer Konventioneller Waffen (CCW), die die Türkei 2008 in Oslo unterzeichnete. Der Gouverneur von Batman sprach präventiv von falschen Anschuldigungen bezüglich einer Benutzung chemischer Waffen, ohne dass diese Anschuldigungen erhoben worden sind.

5. Fall (Postmortale Verstümmelungen, Chemiewaffen)

An dem Leichnam von Özgür Daghan, der am 05.06.2010 getötet wurde, waren Verstümmelungen und wahrscheinlich Verätzungen zu sehen. Im Vorhinein waren Angehörigen Bilder des Toten in unverstümmelten Zustand gezeigt worden. Bei der Abholung der Leiche war sein Körper verbrannt, sogar seine Knochen waren wie geschmolzen, sein Schädel zertrümmert. Auf die Frage nach der Ursache der Verstümmelungen erklärte ein anwesender Staatsanwalt gegenüber Verwandten: „Was erwartest du für einen Terroristen, der gegen den Staat gekämpft hat.“

Zweierlei wird in diesem Fall deutlich: 1. Der Staatsanwalt hatte anscheinend Wissen darüber, was postmortal mit der Leiche geschah 2. Die Vertreter des Staates können sich oft selbst bei gravierenden Menschenrechtsverletzungen oder Kriegsverbrechen darauf verlassen, straflos zu bleiben. In diesem und weiteren Fällen kommt zu dem Kriegsverbrechen die Anwendung psychologischer Kriegsführung durch Erniedrigung.

Die traumatisierenden Folgen davon konnten wir bei mehreren Gesprächen mit betroffenen Verwandten wahrnehmen.

6. Fall (Waldbrände - Entlaubungsmittel)

Ein großes Problem sind in den Provinzen Diyarbakir, Hakkari, Siirt und Dersim seitens des Militärs gelegte Waldbrände und der Einsatz von Entlaubungsmitteln. Auch hier besteht der Verdacht, dass unerlaubte chemische Substanzen eingesetzt wurden.


Ärzte haben z.b. in Hakkari die Vermutung, dass die Kräuter, die in der Region wachsen und von der Bevölkerung von April bis Juni geerntet werden, stark vergiftet sind. Eine Folge davon könnte sein, dass die Magenkrebsrate in den letzten Jahren um 100% angestiegen ist. Früher wurden die Kräuter als Medikament genutzt. Ärzte in Ankara und Hakkari haben empfohlen, die Kräuter nicht mehr zu essen. Für einen großen Teil der Bevölkerung sind sie jedoch derart essentiell, dass sie nicht auf das Sammeln verzichten wollen. Die Durchfallrate ist nach Auskunft von Ärzten in Hakkari ebenfalls stark angestiegen. Ein entsprechendes Dokument liegt beim örtlichen Gericht vor. Es besteht der Verdacht, dass die Ebene von Bercelan, sowie weitere Orte stark verseucht sind. Von hier kommt dass Trinkwasser der Stadt.

Wegen einer Beschwerde gegen die Nutzung von Chemiewaffen durch das türkische Militär in Hakkari/Bercelan vor einigen Monaten war der Vorsitzende des IHD, Ismael Akbulut, drei Monate im Gefängnis von Bitlis inhaftiert. Vorwurf war die vermeintliche Erniedrigung des türkischen Militärs und Propaganda für eine [verbotene] Organisation. Danach wurde er wegen Mangels an Beweisen frei gelassen. Delegationen aus Europa, die versuchten in der Region vor Ort diesbezüglich zu recherchieren, wurden bisher regelmäßig von Militär und Polizei daran gehindert.

7. Fall (postmortale Verstümmelung)

Am 19.08. wurden mehrere Guerillas von Soldaten und Dorfschützern in Ercis bei Van angegriffen. Zwei von ihnen wurden umgebracht, die Leichen postmortal verstümmelt. Die Betroffenen wurden, nachdem sie schon Tod waren, mit etlichen Schüssen weiter verstümmelt und mehrere hundert Meter über den Boden geschleift. Ein Dorfbewohner, der als Augenzeuge Angaben über das Geschehen machte, wurde sofort festgenommen.

8. Fall (Chemiewaffen)

In der 27000 EinwohnerInnen zählenden, nahe Siirt gelegenen Stadt Pervari wurden am 6. Juli 2010 zehn Guerillas verbrannt und zerstückelt. Die Staatsanwaltschaft übergab daraufhin nur 2 der Leichen den Familien. Die restlichen 8 wurden unter Nichteinhaltung der üblichen 15 Tagesfrist zur Identifikation sofort begraben. Aufgrund der Sichtung der Leichen durch MenschenrechtlerInnen und vorhandener Fotos, besteht ein berechtigter Verdacht, dass das türkische Militär auch in diesem Fall chemische Waffen eingesetzt hat. Die Staatsanwaltschaft hat die Autopsieberichte, wie in solchen Fällen üblich, nicht herausgegeben.

Hintergründe:

Pervari wird von mehreren Dorfschützerclans beherrscht. 47 Menschen die der BDP zugerechnet werden, u.a. da sie keinem der Clans angehören, wurden in den letzten Monaten verhaftet. Dorfschützer und Soldaten verlegen in Nutzwäldern und Bergregionen rund um die Stadt regelmäßig Minen. Diese werden auch ohne Kartographie in sogenannten Sicherheitszonen verlegt. Diese Praxis fordert häufig Verletzte und Tote. Ein Soldat bekannte sich gegenüber MenschenrechtlerInnen dazu, dass Minen in Sicherheitszonen aus angeblichen „Sicherheitsgründen“ verlegt werden. Das bedeutet einen Verstoß gegen die Konventionen von Ottawa.


Die Delegation hatte geplant, nach Pervari zu fahren, um dort die näheren Umstände bezüglich eines möglichen Chemiewaffeneinsatzes zu recherchieren. Es gab jedoch konkrete Verdachtsmomente dafür, dass in einem solchen Fall ein Minenanschlag auf das Delegationsfahrzeug verübt werden könnte. Zudem wäre Einschätzungen unserer GesprächspartnerInnen vor Ort zufolge jeder Mensch, der mit der Delegation gesprochen hätte, im Nachhinein weder seiner Freiheit noch seines Lebens sicher gewesen.

Durch seitens des Militärs gelegte Waldbrände wurden in den letzten Monaten in der Provinz Siirt mehr als 50 000 Hektar Wald zerstört. Soldaten und Polizisten behinderten in vielen Fällen das Löschen der Brände. In den Regionen, in denen die Waldbrände gelegt wurden, verlegten Militär und Dorfschützer Berichten zufolge ebenfalls Minen.

9. Fall (Chemische Substanzen)

In einem Landwirtschaftsbetrieb in Yüksekova wies Baumobst in diesem Jahr ungewöhnliche Veränderungen auf. Bei einer Untersuchung in einem Labor außerhalb der Türkei wurden hohe Konzentrationen ungewöhnlicher chemischer Substanzen nachgewiesen.

10. Fall (Hirte Dersim)

Am 12.08.10 war der Hirte, Fikri Karaku ş, aus Skorsky- und Kobrahubschraubern in Dersim/Pülümür angegriffen und schwer verletzt worden. Nachdem er um 17.00 von Helikoptern überflogen worden war, während er sein Vieh weidete, wurden er und seine Herde bombardiert obwohl es offensichtlich gewesen sein muss, dass er ein ziviles Ziel darstellte. Er erklärte: „Ich war in der Nähe eines Felsen mit meinen Lämmern und saß im Schatten, die Helikopter überflogen uns mehrfach. Ich hatte einen Hund und einen Esel dabei. Plötzlich flogen die Kobra Helikopter auf mich zu. Als sie anfingen in meine Richtung Bomben zu werfen, versteckte ich mich unter einem Felsen und wartete. Dabei wurde ich verletzt und fiel in Ohnmacht. Ich wurde auf der Alm gefunden und ins Krankenhaus gebracht.“ Das Bombardement dauerte Berichten zufolge mindestens 2 Stunden an. Auf dem Weg ins Krankenhaus wurden die ihn Transportierenden vom Kommandanten des Kocatepe Militärstützpunktes bedroht. Dieser sagte: „das ist ein Terrorist, der soll sterben, lasst ihn.“ Mittlerweile befindet sich der verletzte und schwer traumatisierte Hirte im Krankenhaus von Elazig in stationärer Behandlung. Splitter sind in sein linkes Bein eingedrungen, große Körperflächen verbrannt.

Wir fordern die umgehende Aufklärung sämtlicher dieser Verbrechen durch eine unabhängige internationale Kommission. Sie verstoßen gegen die Menschenrechte und die Genfer Konventionen und sie nicht hinnehmbar.

Vergewaltigungen in Siirt

Die Vergewaltigungsrate in Siirt hat in letzter Zeit immens zugenommen. Die Spitze des Eisbergs: Ein stellvertretender Schuldirektor und mehr als 20 weitere Verdächtige, darunter Soldaten, Sicherheitskräfte und AKP-Mitglieder haben mindestens 7 SchülerInnen über 4 Jahre systematisch im Zimmer des Schuldirektors unter Bedrohungen vergewaltigt. Der Gouverneur kommentierte Proteste von kurdischen Frauenorganisationen, indem er sagte, dass sie keine Protestaktionen machen sondern sich prostituieren sollten. Vergewaltigungen werden seit Jahren im Rahmen von Assimilationspolitik und


der politischen Unterdrückung der kurdischen Bevölkerung in mehreren Regionen systematisch angewandt.

Polizeiübergriff auf Demonstration in Siirt

In Siirt wurden der Vorsitzende der BDP, Ali Kayar, das IHD Vorstandmitglied, Zana Aksu, die Kreisleiterin der BDP, Naciye Ete, und fünf weitere Personen während einer Beerdigung von Guerillas einen Tag nach unserer Abreise durch Polizeikräfte geschlagen. Zusätzlich setzte die Polizei Tränengas und scharfe Munition ein. Dabei wurde das Vorstandsmitglied der BDP, N. Aksu, schwer verletzt. Sie befindet sich im Krankenhaus. Drei weitere Personen wurden festgenommen. Der Leichnam blieb eine Zeitlang unbestattet liegen, da die Polizei die Begräbnisveranstaltung, an der viele Tausend Menschen teilnahmen, gewaltsam aufgelöst hatte. Aufgrund des massiven Einsatzes von Tränengasgranaten entstand auf dem Friedhof ein Feuer, das viele Gräber beschädigte.

Staudammbau und psychischer Druck in Tunceli/Dersim

In der Stadt Tunceli/Dersim befinden sich 8 Staudämme in Bau, weitere sind geplant. Ein bereits fertig gestellter Staudamm hat weite Teile von Vororten und Naturschätze unter Wasser gesetzt. Gefährdet sind auch Teile der Innenstadt sowie das gesamte Munzurtal, ein Naturschutzgebiet, das auch Weltkulturerbe sein könnte, wenn die türkische Regierung einen entsprechenden Antrag nicht verhindern würde. Zur Stromgewinnung sind die Staudämme nicht effizient und keinesfalls nötig. Einziges Ziel ist scheinbar die Isolierung der Bergmetropole von der Umgebung und die schrittweise Zerstörung der noch vorhandenen Infrastruktur. So soll auch der in den Bergen der Region sehr starke Widerstand der PKK und türkischer Linker Guerillaorganisationen gebrochen werden. Gegen die Staudammbauten entwickelt sich Widerstand von ökologischen und politischen Initiativen, der zum Teil sehr kreativ (z.B. Bau von Kultstätten, Kulturfestivals etc.) gestaltet wird.

In trauriger historischer Kontinuität wird in Tunceli/Dersim staatlicherseits an einer Politik der eisernen Faust festgehalten. 1938 wurden im Verlauf des Dersim - Massakers mehr als 80000 Menschen ermordet und mehrere hunderttausend deportiert. Der Repressionsdruck ist hier derart groß, dass Gespräche fast nur mit Parlamentsabgeordneten und der Bürgermeisterin möglich sind, um nicht weitere Menschen zu gefährden. 50 Mitglieder der Kommunalverwaltung und des Verwaltungspersonals sowie MenschenrechtlerInnen wurden seit 2009 verhaftet. In Tunceli/Dersim sind Komponenten der psychologischen Kriegsführung und technischer Überwachung sehr stark ausgeprägt. Vergewaltigung und Erniedrigung von Frauen durch Sicherheitskräfte wird hier besonders häufig angewandt.

Am Tag unserer Ankunft spricht der aus Tunceli/Dersim stammende Vorsitzende der kemalistischen CHP. Die gesamte Stadt ist mit CHP Fahnen und seinem Konterfei geflaggt. Er spricht von einem notwendigen Dialog mit der PKK und lässt danach, direkt vor der Polizeikaserne, in der nach dem Militärputsch in den achtziger Jahren unzählige Menschen gefoltert wurden und starben, das gleiche Lied über die Herrlichkeit des Türkentums spielen, dass während der Folterprozeduren zu dieser Zeit als Mittel der psychologischen Folter und zum Übertünchen der Schreie gespielt wurde.


Tränengasgranaten gegen 9‐10 jährige Kinder in Semdinli

Am 22.08.2010 erreichten wir die Stadt Semdinli mittags. Als Kinder aus Protest einige wenige Steine auf vorbeifahrende Panzerfahrzeuge warfen, griffen martialisch gekleidete Polizisten sie mit, Maschinengewehrgroßen Tränengaswerfern an. Dabei wurde auch immer wieder demonstrativ auf das BDP Parteigebäude gezielt.

Beerdigung und lebensgefährliche Polizeiübergriffe in Semdinli

Am 23.08. verzögerte die Staatsanwaltschaft in Hakkari Semdinli die Herausgabe von 4 Leichen von Guerillas, die am 20.08.2010 bei der Bombardierung einer Region nahe Semdinli getötet wurden. Schließlich wurden 3 der Opfer den jeweiligen Familien bzw. der Stadtverwaltung zur Waschung und Bestattung übergeben. Das 4. Opfer sollte zuerst nicht übergeben werden, da die direkten Angehörigen aus gesundheitlichen Gründen nicht vor Ort sein konnten. Aufgrund der Nichtherausgabe des Leichnams der 4. Getöteten sowie ständigen verbalen Provokationen von Polizeibeamten gegenüber der wartenden Menge, war abzusehen, dass die Situation eskalieren würde. Deshalb versuchten wir durch eine Intervention bei der Deutschen Botschaft fernmündlich die Herausgabe die Nichtherausgabe des 4. Leichnams zu thematisieren und deeskalierend einzuwirken.

Als ein Demonstrationszug aus der Stadt vor dem Krankenhaus eintraf und vorwiegend Kinder einige wirkungslose Steine auf Panzerfahrzeuge warfen fuhr die Polizei mit einem gepanzerten Fahrzeug/Wasserwerfer (Typ Skorpion) mit ca. 50km/h in die Menge. Es ist nur einem glücklichen Zufall geschuldet, dass es keine Toten gab. Daraufhin fuhr das Panzerfahrzeug mit gleicher Geschwindigkeit in eine vor dem Krankenhaus, zum Teil sitzende Menschenmenge, die auf die Herausgabe der Leichen wartete. Wäre nur einer der flüchtenden Menschen vor dem Fahrzeug gestolpert, wäre es zu einem tragischen und völlig unnötigen Vorfall gekommen. Auch Delegationsmitglieder mussten durch einen Sprung über einen Zaun ihr Leben retten.

Das Leben von Menschen wurde hier wissentlich riskiert. Durch Tränengasgeschosse wurden 4 Menschen verletzt. Polizisten setzten auch scharfe Munition ein. Augenzeugen erklärten, dass diese gezielt auf DemonstrantInnen abgefeuert wurde. Die Menschen haben Schutz und medizinische Versorgung im örtlichen Krankenhaus gesucht. Durch den Einsatz der Gasgranaten sind bei BewohnerInnen und Kindern, auch bei den Delegationsteilnehmern aus Deutschland, massive körperliche Beeinträchtigungen eingetreten.

Schließlich wurden 2 Leichnahme den angereisten Familien, 2 weitere der Stadtverwaltung übergeben. Auf der folgenden Beerdigung war große Trauer und Verbitterung zu spüren und thematisiert, dass die gerade über 20 jährigen in einer Phase des Waffenstillstands sterben mussten. Die 2 getöteten Frauen waren 2004/2005 Mitglieder der „Canli Kalkanlar“. Diese hatten sich als Lebende Schutzschilde intensiv für den Frieden eingesetzt. Die Meisten der FriedensaktivistInnen wurden danach mit Prozessen

überzogen. Es blieb ihnen die Wahl zwischen jahrelangen Freiheitsstrafen, Flucht ins Exil oder dem Weg zur Guerilla in die Berge. Hier wird die Tragödie der kurdischen Bevölkerung auf zynische Weise besonders deutlich.


Solange der türkische Staat sämtliche politischen und friedlichen Lösungswege blockiert, werden sich auch weiterhin Menschen der Guerilla anschließen und in einem unnötigerweise fortgeführten Konflikt sterben.

Anschließend wurden die beiden weiblichen Guerillas in einem Konvoi von mehr als 50 Fahrzeugen in ihre Heimatstädte begleitet. In der Kreisstadt Yüksekova stand der Verkehr still, die Polizei hatte sich nach heftigen Straßenkämpfen mit mehreren Verletzten entfernt. Mehrere tausend junge Menschen begleiteten den Trauerzug mit Solidaritätsbekundungen und PKK Fahnen. Die Guerillakämpferin Gülistan Ergul wurde am 24.0.2010 von ca. zehntausend Menschen in ihrer Heimatstadt Bitlis beigesetzt.

Diese Ereignisse machen deutlich, dass die PKK nicht von der kurdischen Bevölkerung zu trennen ist. „Wir wollen nicht, dass weiterhin Guerillas und Soldaten fallen,“ bekunden unter anderem die Friedensmütter immer wieder. Die internationale Öffentlichkeit und die Regierungen sollten diese

Realität zur Kenntnis nehmen und dem entsprechend politische Strategien für eine friedliche Lösung des Konflikts entwickeln.

Fazit

Wenn die Bundesrepublik, die EU und die UN an einer friedlichen Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts ernsthaft interessiert sind, müssen sie sich aktiv für einen Friedensdialog und die Aufarbeitung geschehenen Unrechts einsetzen. Nicht hinnehmbar ist, dass im ersten Halbjahr 2010 mehr als 20 Morde durch Sicherheitskräfte und Militär verübt wurden, Fälle von Folter zunehmen und sich Kriegsverbrechen, wie der Einsatz chemischer Waffen und die Verstümmelung von Toten, häufen.

Ziel der im türkischen Parlament mit 20 Abgeordneten vertretenen BDP ist seit geraumer Zeit der Aufbau von föderalen und regionalen Selbstbestimmungsstrukturen. Die Rechte der kurdischen Bevölkerungsgruppe und sämtlicher, regionaler, ethnischer und religiöser Minderheiten sollen in diesem Modell gestärkt werden. Die Türkei könnte durch eine solche Vielfalt einen neuen Zugang zu kulturellem Reichtum bekommen. Statt Separatismus wird seitens der KurdInnen und deren politischen VertreterInnen auf die Demokratisierung des Landes gesetzt. Das wurde in sämtlichen geführten Gesprächen deutlich.

Der erneute einseitige Waffenstillstand der PKK sollte seitens der türkischen Regierung und den Regierungen in Europa als Chance begriffen werden. Ein erster unabdingbarer Schritt ist, dass auch die türkische Seite sich dem Waffenstillstand anschließt. Die friedlichen Entwicklungen z.B. in Nordirland und südamerikanischen Ländern haben gezeigt, dass zunächst die Logik der Bekämpfung von oppositionellen Bewegungen auch im internationalen Rahmen überwunden werden muss, um positive Schritte zu ermöglichen. Eine Bedingung dafür ist die Einbeziehung der PKK und Abdullah Öcalans in einen Dialog

Wenn Menschen die Situation vor Ort nicht erlebt haben, ist das seitens der KurdInnen erfahrene Leid nicht leicht vermittelbar. Wir hoffen, dass dies mit unserem Bericht zumindest teilweise gelungen ist. Die Mehrheit der türkischen wie auch der kurdischen Bevölkerung hat eine große Sehnsucht nach Frieden. Verantwortungsbewusste PolitikerInnen sind dazu aufgerufen, dementsprechend zu handeln.


Trotz der ungeheuren Repression und Verbrechen seitens des türkischen Staates, sowie der staatlichen Benachteiligung der seitens der BDP regierten Kommunen, hat sich das kulturelle und politische Selbstbewusstsein eines großen Teils der kurdischen Bevölkerung in den letzten Jahren derart entwickelt, dass die selbstbestimmten Schritte der Demokratisierung und sinnvoller Kommunalpolitik nicht mehr zurück zu drängen sein werden. Assimilation und Verleugnung von Realitäten sind keine vernünftigen Lösungswege.

Wichtige notwendige Schritte sind deshalb:

  • Die sofortige Beendigung der Kriegsverbrechen durch das türkische Militär
  • Die Aufklärung sämtlicher Kriegsverbrechen durch eine internationale Kommission
  • Die Freilassung der mehr 1680 Inhaftierten, darunter zum Teil gewählte PolitikerInnen
  • Ein beidseitiger Waffenstillstand
  • Dialogische Gespräche aller Beteiligten
  • Amnestieregulierungen
  • Die juristische Aufarbeitung von Menschenrechtsverletzungen
  • Die Förderung kommunaler und zivilgesellschaftlicher Projekte
    • Der Wille der internationalen Regierungen von der Bekämpfungslogik gegenüber der PKK Abstand zu nehmen und deren Friedenswillen als positive Chance zur friedlichen und demokratischen Entwicklung der Türkei zu begreifen.

Eine derartige Entwicklung wäre ein wichtiger Schritt zu einer langfristigen Demokratisierung des Mittleren Ostens.


Anhang:

Dokumentiertes Schreiben an den botschaftlichen Vertreter der Bundesrepublik Deutschland in der Türkei:

Sehr geehrter Herr Dr. Cuntz, sehr geehrte Damen und Herren

Am 24.08.2010 befanden sich Mitglieder einer größeren Menschenrechtsdelegation aus Deutschland, darunter Herr Martin Dolzer, Wissenschaftlicher Projektmitarbeiter des MdB Andrej Hunko und Herr Michael Knapp, Delegierter der MdL NRW, Bärbel Beuermann, auf dem Weg von Semdinli, Provinz Hakkari nach Hakkari Stadt. Begleitet wurde die Delegation u.a. vom ehemaligen stellvertretenden Bürgermeister und jetzigen Stadtratsmitglied Bülent Armut.

An einem Kontrollpunkt kurz vor Hakkari Stadt, der für eine kontinuierliche Folterpraxis bekannt ist, wurde Herr Armut aus dem Fahrzeug heraus verhaftet. Auf Nachfrage wurde mitgeteilt, dass dies durch einen Haftbefehl der Staatsanwaltschaft in Hakkari geschah. Über die Gründe der Verhaftung kann nur spekuliert werden, da die festnehmenden Beamten und die Staatsanwaltschaft weder Anwälten noch Delegationsmitgliedern Auskunft darüber erteilten. Die Mitglieder der Menschenrechtsdelegation haben Herrn Bülent Armut als aufrichtigen und hilfsbereiten Politiker erlebt, der sich intensiv für den Frieden und die Menschenrechte einsetzt. Selbst in angespannten Konfliktsituationen hat er eine deeskalierende Kommunikation betrieben.

Sehr geehrter Herr Cuntz,

Herr Bülent Armut wird inzwischen weit mehr als 72 Stunden festgehalten, ohne dass er die Möglichkeit hatte, einen Anwalt zu konsultieren.

Eine solche Vorgehensweise wird bisher ausschließlich auf der Grundlage des Anti-Terror-Gesetzes von 2006 angewendet. Vor dem Hintergrund der Festnahmen von ca. 1670 Politikern, zum Teil amtierenden Bürgermeistern, protestieren wir aufs Schärfste gegen diesen weiteren Akt willkürlicher Repression und bitten Sie dringend um Intervention. Es kann einer Demokratisierung des Landes nicht zuträglich sein, wenn gewählte Kommunalpolitiker, meist solche mit internationalen Kontakten, aus den Reihen der BDP, nach und nach offensichtlich willkürlich verhaftet werden. Dies kann in keiner Weise zur Befriedung des lang andauernden Konflikts in der Region beitragen.

Wir bitten Sie als Vertreter der BRD in der Türkei, in diesem Fall bei der türkischen Regierung vorstellig zu werden, sich nach Herrn Bülent Armut und dessen Unversehrtheit zu erkundigen, sowie die Willkürlichkeit der Festnahme zu thematisieren - und auf seine Freilassung hinzuwirken.

Für die Unterzeichner Ingrid Remmers, MdB weitere Unterzeichnende: MdEP Jürgen Klute, MdL NRW Bärbel Beuermann

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko