Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Die Gesellschaft für deutsche Sprache (GfdS) wählte „Wutbürger“ zum Wort des Jahres 2010. Auf Platz zwei kam „Stuttgart 21“, der Begriff „Schottern“ – eine neue Widerstandsform gegen die Castortransporte nach Gorleben – erreichte immerhin Platz sechs, knapp hinter „Cyberkrieg“ und „Wikileaks“. Die Hälfte der durch die GfdS ausgezeichneten Wörter beziehen sich damit direkt oder indirekt auf die Bewegungen, die für das Jahr 2010 zumindest in Deutschland charakteristisch waren und als deren gemeinsame Klammer das Bedürfnis nach Transparenz und demokratischer Teilhabe gelten kann.

Zur Wahl von „Wutbürger“ schreibt die GfdS:

"Als Wort des Jahres wurde Wutbürger gewählt. Diese Neubildung wurde von zahlreichen Zeitungen und Fernsehsendern verwendet, um einer Empörung in der Bevölkerung darüber Ausdruck zu geben, dass politische Entscheidungen über ihren Kopf hinweg getroffen werden Das Wort dokumentiert ein großes Bedürfnis der Bürgerinnen und Bürger, über ihre Wahlentscheidung hinaus ein Mitspracherecht bei gesellschaftlich und politisch relevanten Projekten zu haben."

Im Unterschied zu diesen linksdemokratischen Bedürfnissen und Bewegungen blieben die klassischen Sozialproteste, die sich vor allem gegen das Abwälzen der Kosten der  Bankenrettungspakete auf die Bevölkerung und die entsprechenden „Sparpakete“ richteten, deutlich hinter den Erwartungen zurück. Der „Heiße Herbst“ der Gewerkschaften blieb ein lauwarmes Lüftchen, auch die Mobilisierungen der Anti-Krisen-Bündnisse konnten nicht die erwünschte Wirkung erzielen.

Diese Entwicklung in Deutschland hebt sich ein Stück weit von der Entwicklung in anderen europäischen Ländern ab: Hier erreichten die klassischen sozialen Mobilisierungen, die sich in der Regel gegen die Versuche der (sozialdemokratischen oder konservativen) nationalen Regierungen richteten, massive Sozialkürzungspakete gegen die jeweilige Bevölkerung durch zu setzen, beeindruckende Dimensionen. So etwa die Bewegung gegen die Erhöhung des Renteneintrittsalters in Frankreich, die Generalstreiks in Griechenland, Spanien und Portugal gegen die Umsetzung der EU-Vorgaben zur „Konsolidisierung“ der Haushalte oder die Studierendenbewegung in Großbritannien gegen die drastische Erhöhung der Studiengebühren.

Stuttgart 21

Die überraschendste  Bewegung des Jahres 2010 ist zweifellos die Protestbewegung gegen das unsinnige Bahnhofs- und Städtebauprojekt Stuttgart 21. Zwar gab es schon seit Jahren in der Stuttgarter Bevölkerung Kritik und Widerstand an diesem Prestigeprojekt, aber erst im Sommer des Jahres erreichte die Bewegung Massenbasis und Nachhaltigkeit. Organisatorische Kernstruktur der Bewegung waren die allwöchentlichen Montagsdemos, die sich seit dem Sommer 2010 über fünfstellige Beteiligung freuen konnten und bis zu 100.000 Teilnehmer/innen umfassten.

Eskaliert wurde die Situation am 30. September, als die Polizei mit äußerster Brutalität gegen die Demonstrant/innen vorging. Hunderte zum Teil schwer Verletzte waren das Ergebnis der von höchster Stelle angeordneten Befehlslage. Die Empörung über diese Gewalteskalation war selbst in konservativen bürgerlichen Medien beträchtlich, dennoch wurden die Verantwortlichen bislang nicht zur Rechenschaft gezogen und die politisch hauptverantwortliche baden-württembergische CDU konnte ihr Umfragetief seitdem sogar überwinden.

Das Besondere an der Bewegung gegen Stuttgart 21 liegt darin, dass es sich um eine Bewegung in einer der reicheren Regionen Deutschlands handelt, die historisch nicht gerade für eine ausgeprägte Widerstandskultur bekannt war. Galt "der Schwabe" bislang politisch eher als konservativ ("Schaffe, schaffe, Häusle baue") oder reaktionär, indem er etwa 1848 der badischen Bundschuh-Bewegung in den Rücken gefallen war, so wurde der Schwabenstreich 2010 zum Synonym der neuen Protestbewegung.

Schottern in Gorleben

Seit der skandalösen Entscheidung im Jahre 1984 in Gorleben ein „Zwischenlager“ für radioaktiven Atommüll einzurichten, bildete sich im Wendland eine Widerstandkultur gegen die alljährlichen Castortransporte nach Gorleben heraus. Im November 2010 erreichte dieser Widerstand jedoch eine bislang nicht bekannte Breite und Entschlossenheit. Auslöser dieses qualitativen Sprungs der Bewegung war der Atomdeal der Bundesregierung mit den großen Energiekonzernen - sogar unter Verletzung elementarischer parlamentarischer Spielregeln und Transparenz.

Die traditionelle Demonstration in Dannenberg im Vorfeld des Transports war mit 50.000 Teilnehmer/innen die größte in der Geschichte der wendländischen Anti-AKW-Bewegung, die Massenblockaden auf den Gleisen und in Gorleben waren umfangreicher und ausdauernder als in den Jahren zuvor. Zudem machte die neue Aktionsform „Castor? Schottern!“ Schlagzeilen, die versuchte unter Anwendung der auf Gipfelprotesten erlernten Demonstrationstaktik des „Umfließens“ von Polizeiketten das Gleisbett der Zugstrecke zu „entschottern“ und so den Transport zumindest zu erschweren.

Die Kriminalisierungsversuche dieser Bewegungsform im Vorfeld des Castor-Transports liefen weitgehend ins Leere. Statt der erwarteten 300 – 500 Schotterer beteiligten sich ca. 5000 Menschen am Schottern, darunter auch Mdbs und MdLs der LINKEN. Zudem wurde die Kampagne trotz aller Kriminalisierungsversuche auch in den anderen Widerstandsmilieus und selbst in weiten Teilen der bürgerlichen Medien als legitime Form des zivilen Ungehorsams wahrgenommen.

Dieser qualitative Sprung im Widerstand gegen die unverantwortliche Atompolitik hat seine Wurzeln, ähnlich der Bewegung gegen Stuttgart 21, in klassisch linksdemokratischen Bedürfnissen: Wichtige gesellschaftliche Entscheidungen müssen transparent und demokratisch legitimiert ablaufen und nicht durch intransparente Kungelei mit wirtschaftlich mächtigen Akteuren.

Berliner Wasserbegehren

Das Volksbegehren "Schluss mit Geheimverträgen - Wir Berliner wollen unser Wasser zurück" für die Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben (BWB) konnte im November 2010 mit über 280.000 gültigen Unterschriften das erforderliche Quorum von 171.864 Unterschriften überraschend deutlich überspringen. Nach Angaben von Mehr Demokratie e.V. ist es damit das Berliner Volksbegehren, das mit dem geringsten Spendenaufkommen die höchste Unterschriftenzahl erreichte. Dieser Erfolg ist ebenfalls mit dem wachsenden Bedürfnis nach Transparenz in der Bevölkerung erklärbar. Es hat zudem eine starke soziale Komponente, da die Wasserpreise in Berlin seit der Teilprivatisierung stark gestiegen sind.

Der Erfolg ist umso bemerkenswerter, als dass das Begehren von keiner der im Abgeordnetenhaus vertretenen Parteien unterstützt wurde, auch wenn Basisgruppen der LINKEN einen erheblichen Anteil am Erfolg hatten. Am 8. Dezember erklärten SPD und Linksfraktion im Abgeordnetenhaus das angestrebte  „Gesetz zur Publizitätspflicht im Bereich der Berliner Wasserwirtschaft“ sogar für gegenstandslos.

Wie auch immer die juristische Bewertung sein mag - die große Beteiligung am Volksbegehren drückt ebenso wie die Bewegungen um Stuttgart 21 und gegen den Atomdeal der Bundesregierung das wachsende demokratische Bedürfnis nach Transparenz in der Bevölkerung aus.

Wikileaks

Es macht Sinn, in dieser Aufzählung auch die Solidarisierungen mit Wikileaks auf zu nehmen. Der Berliner Wassertisch schlägt von sich aus eine Brücke zur Debatte um Wikileaks. In einer Pressemitteilung vom 9. Dezember zum Beschluss des Berliner Abgeordnetenhauses heißt es: "Gerade die aktuelle Auseinandersetzung um Wikileaks zeigt, dass klassische Methoden der Geheimniskrämerei weder in demokratischen Gesellschaften noch im Zeitalter des World Wide Web aufrechtzuerhalten sind. Notwendig ist eine gesetzlich umfassende wie verbindliche Regelung der Informationsfreiheit in demokratischen Gesellschaften!"

Auch wenn nach einer Umfrage vom 2. Dezember nur 31% der Deutschen die Veröffentlichungen von Wikileaks richtig finden bleibt die positive Resonanz auf Wikileaks beachtlich. Einige Tausend Menschen, darunter auch die Bundestagsfraktion der LINKEN, haben die Seiten von Wikileaks gespiegelt, knapp 40.000 beteiligten sich in Deutschland bislang sich an einer Campact-Aktion gegen die Einschüchterungen von Finanzkonzernen wie VISA, Mastercard oder Paypal.

Konsequenzen für DIE LINKE

Die Bewegungen des Jahres 2010 waren keine Bewegungen, die die beiden Kernthemen der Partei DIE LINKE, Krieg und soziale Gerechtigkeit, zum unmittelbaren Gegenstand hatten. Die Schwäche der klassischen  Sozialproteste im europäischen Vergleich, mag damit zusammen hängen, dass das deutsche Kapital gestärkt aus der Krise hervorgegangen ist und Teile der Gewerkschaften in die aggressive Exportstrategie einbinden kann. Trotzdem bleibt es ein zu erklärendes soziokulturelles Phänomen, dass es 2010 nicht gelungen ist, den Widerstand der Prekarisierten, der Niedriglöhner, der Erwerbslosen zu entwickeln.

Die Kernthemen der Bewegungen des Jahres 2010 waren linksdemokratischer Natur. Das nach Umfragen in erster Linie die Grünen profitieren konnten und nicht DIE LINKE mag mit der medialen Steuerung der Wahrnehmung dieser Bewegungen zusammen hängen. Gleichwohl gibt es hier auch programmatische und praktische Defizite der Partei selbst.

Wenn etwa dem Jugendmedienschutz-Staatsvertrag, der eine Infrastruktur für die staatliche Überwachung des Internets bietet, im Berliner Abgeordnetenhaus wider eigene Überzeugung - oder gar in der Bremerschen Bürgerschaft offenbar mit eigener Überzeugung  - zugestimmt wird, dann schadet das der Glaubwürdigkeit der Gesamtpartei.

"Schluss mit der Geheimdiplomatie" war immer ein klassische Forderung der ArbeiterInnenbewegung. An diese Tradition gilt es radikal anzuknüpfen. Der Kampf um Informationsfreiheit und demokratische Teilhabe ist integraler Bestandteil linker Bewegungen weltweit. Er ist keine Alternative zum Antikapitalismus, sondern muss gegen die kapitalistischen Konzerne und imperiale Interessen durchgesetzt werden, wie das Berliner Wasserbegehren oder Wikileaks zeigen. DIE LINKE muss hier Speerspitze sein - in ihrer eigenen Verfasstheit, in der öffentlichen Wahrnehmung und in der praktischen Konsequenz.

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko