Zur „Bundesnotbremse“ und der vierten Novelle des Infektionsschutzgesetzes
Am Freitag, den 16. April hat der Bundestag sich in erster Lesung mit der vierten Überarbeitung des Infektionsschutzgesetzes (IfSG) im Zuge der Corona-Pandemie befasst. Der Bundestag wird voraussichtlich am Mittwoch (21. April) über das Gesetz abstimmen. Die Linksfraktion lehnt es in der derzeitigen Fassung ab. Wir haben uns bei der ersten Novelle des Infektionsschutzgesetzes von März 2020 enthalten und bei der zweiten und dritten Novelle im Mai und November 2020 mit Nein gestimmt. Im Folgenden möchte ich Ihnen die Gründe für meine erneute Ablehnung darlegen:
1) Grundsätzlich zu begrüßen ist, dass der Bundestag per Gesetz konkrete Maßnahmen beschließt, statt diese Entscheidungen pauschal auf die Exekutive (Ministerpräsidentenkonferenz und Landesregierungen) zu übertragen wie bisher. Allerdings enthält auch die vierte Novelle eine weitreichende Verordnungsermächtigung für die Bundesregierung mit der auch weitere Grundrechte eingeschränkt werden können. Diese Ermächtigung ist durch die Zustimmungspflicht des Bundesrates nur unzureichend demokratisch legitimiert. Dies lehne ich ab.
2) Kritisch sehe ich auch, dass der Bund durch das Gesetz den Landkreisen verbindlich vorschreibt, was sie zu tun oder zu lassen haben. Dadurch wird der Föderalismus in nicht notwendiger Weise eingeschränkt.
3) Die vorgesehenen nächtlichen Ausgangssperren stellen einen massiven und verfassungsrechtlich höchst bedenklichen Eingriff in die Grundrechte dar, während die epidemiologische Wirksamkeit dieser Maßnahme äußerst fragwürdig ist. Eine solche autoritäre Symbolpolitik, die auch dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit widerspricht, lehne ich entschieden ab. Darüber hinaus sendet eine Ausgangssperre auch die völlig falsche Nachricht. Denn wie jüngst noch einmal die Gesellschaft für Aerosolforschung (GAeF) klargestellt hat, findet die Übertragung der SARS-CoV-2-Viren fast ausnahmslos in Innenräumen statt. Die Nachricht müsste also eigentlich sein, möglichst viele Aktivitäten an die frische Luft zu verlegen und nicht das Verlassen der Wohnung unter Strafe zu stellen.
4) Die Gesetzesnovelle weitet auch die Fälle deutlich aus, in denen bei Verstößen statt Bußgeldern empfindliche Geldstrafen und sogar Freiheitstrafen bis zu fünf Jahren verhängt werden können. Dies ist beispielweise der Fall, wenn vorsätzlich gegen die geplante Ausgangssperre verstoßen würde und dabei das Virus verbreitet würde. Oder wenn dies beim Sport mit mehr als einer Person eines anderen Haushalts geschehen würde. Diese Ausweitung des Strafrechts scheint mir völlig unverhältnismäßig und nicht akzeptabel.
5) Der gesamte Bereich des Arbeitsschutzes (Verpflichtung der Arbeitgeber:innen zu kostenlosen Tests und zur Absicherung von Abstands- und Hygienemaßnahmen, Homeoffice, Pflicht von Testungen) soll in dem Gesetzentwurf völlig ausgespart bleiben. Für den privaten Bereich, Schulen und Kitas, den Sport und den Einzelhandel sieht die „Notbremse“ drastische Regelungen vor, für Großunternehmen hingegen nicht. Die Last zur Bewältigung der Pandemie darf nicht weiter überwiegend dem privaten Bereich, den Schulen und einzelnen Branchen auferlegt werden. Bestehende Regelungen zum Arbeitsschutz müssen endlich konsequent kontrolliert und durchgesetzt werden. Die Bundesregierung zieht hier aber Samthandschuhe an, während das Leben in anderen Bereichen immer härter eingeschränkt werden soll.
6) Ein großes Problem bleibt die Festlegung auf die Sieben-Tage-Inzidenz als alleinige Maßzahl für die Grundrechtseinschränkungen. Weihnachten und Ostern haben deutlich gezeigt, wie stark diese Zahl von anderen Faktoren – vor allem der Zahl der durchgeführten Tests und der Teststrategie – abhängig ist. Es ist Ausdruck des politischen Versagens der Bundesregierung, dass nach einem Jahr Pandemie noch immer kein verlässliches Instrument zur Darstellung des Infektionsgeschehens etabliert wurde. Regelmäßige repräsentative Stichprobentestungen könnten dieses Problem beheben. Aus mir unerfindlichen Gründen wird sich aber weiter auf die äußerst ungenaue Sieben-Tage-Inzidenz gestützt. Diese wird mit zunehmender Impfung der Risikogruppen außerdem immer weniger aussagekräftig und müsste differenziert nach Alterskohorten betrachtet werden.
7) Problematisch finde ich auch die vorgesehene automatische Schließung von Schulen und Kindertagesstätten. Einerseits wurde es versäumt, das letzte Jahr zu nutzen, um Konzepte für den Betrieb in Pandemiezeiten zu entwickeln und auch umzusetzen, andererseits werden die jüngsten und gesundheitlich am wenigsten gefährdeten Mitglieder unserer Gesellschaft durch die bisherige Pandemiepolitik überdurchschnittlich belastet. Die Schließung von Bildungs- und Betreuungseinrichtungen sollten das allerletzte Mittel der Pandemiebekämpfung sein. Davon sind wir leider weit entfernt.
8) Insgesamt setzt die Gesetzesreform die Maßnahmen der vergangenen Monate fort und belegt einmal mehr, dass die Bundesregierung keine sinnvolle langfristige Strategie hat, mit der Pandemie umzugehen. Statt immer mehr und härterer Maßnahmen müssten diese vor allem zielgenau dort ansetzen, wo nachweislich die Infektionsgefahr am größten ist. Doch es wurde weitgehend versäumt, diese Orte und Situationen systematisch wissenschaftlich zu ermitteln und Maßnahmen auf ihre Effektivität und ihre „Kollateralschäden“ hin zu untersuchen.
9) Der Gesetzentwurf sieht keinerlei Maßnahmen zur Erhöhung der Produktionskapazitäten von Impfstoffen und Schnelltests vor, etwa durch die Freigabe der Lizenzen und des entsprechenden technologischen Know-hows. Das zentrale Versagen der Bundesregierung besteht also weiter fort. Eine Pandemie kann aber nicht im nationalen Rahmen erfolgreich besiegt werden.
Maßnahmen der öffentlichen Gesundheit zur Bekämpfung der Corona-Pandemie sind notwendig. Diese müssen jedoch tatsächlich geeignet, also effektiv sein und die Verhältnismäßigkeit muss gewahrt bleiben. Einige der Maßnahmen, die die Bundesregierung beziehungsweise die Treffen von Kanzlerin Merkel mit den Ministerpräsident:innen erlassen haben, erscheinen mir willkürlich und nicht nachvollziehbar. Insbesondere auch die Art und Weise der öffentlichen Kommunikation und Debatte sehe ich kritisch. Ich hatte mich schon im Mai 2020 in einer Rede dazu geäußert.
Als Berichterstatter des Europarates habe ich im Juni 2020 die Notwendigkeit schneller, aber eben auch rechtskonformer und verhältnismäßiger Maßnahmen betont.
Jeglicher Versuch, die Pandemie zu nutzen, um dauerhafte Einschränkungen von Grundrechten zu etablieren, muss entschieden zurück gewiesen werden.
Des Weiteren müssen sämtliche sozialen Folgen abgefedert werden, insbesondere auch in den gesellschaftlichen Bereichen, die jetzt von den Einschränkungen besonders betroffen sind. Die Krise darf nicht auf dem Rücken der Gering- und Normalverdienenden ausgetragen werden.
Dass so schnell diverse Impfstoffe gegen Covid19 zur Verfügung stehen, ist ein großer und unerwarteter Erfolg. Nichtsdestotrotz muss die Sicherheit der Impfstoffe immer an erster Stelle stehen und die Impfung muss freiwillig sein, wie es auch der Europarat gefordert hat. Impfzertifikate zur Rückgewinnung von Grundrechten, die einer Impfpflicht durch die Hintertür gleichkämen, lehne ich ab.
Bitte bleiben Sie achtsam und wachsam. Bei der sehr großen Unterschiedlichkeit der Meinungen und Haltungen in dieser Debatte, halte ich den Respekt untereinander für elementar und sehe mit Sorge die wachsende Polarisierung unserer Gesellschaft.
Andrej Hunko, 16. April 2021 (leicht ergänzt am 20. April 2021)