Matthias Monroy
Wie die Grenzschutzagentur Frontex will auch die EU-Polizeiagentur Europol mehr operative Kompetenzen. Im November legt die Kommission deshalb einen Vorschlag für eine neue Rechtsordnung vor: Datensammlungen werden ausgebaut, Tätigkeitsgebiete und Kompetenzen erweitert. Die gleichzeitige Ausweitung der parlamentarischen Kontrolle bleibt vermutlich marginal.
Die Schaffung von Europol wurde 1992 im Vertrag von Maastricht als „Europäisches Polizeiamt“ mit Sitz in Den Haag festgeschrieben. Vorausgegangen war ein Vorschlag Deutschlands im Europäischen Rat aus dem Jahr 1991, eine „Europäische Kriminalpolizeiliche Zentralstelle“ zu errichten, um grenzüberschreitende Kooperationen zu vereinfachen. Als Priorität galten damals die Koordination und der Informationsaustausch unter europäischen Polizeien. Bis zur Ausgestaltung und Annahme eines Europol-Übereinkommens 1999 widmete sich Europol allerdings lediglich der Rauschgiftkriminalität und Geldwäsche. Erst danach kamen mit „Aufklärung“ und Entsendung von „Spezialisten“ mehr Kompetenzen hinzu. Das Aufgabengebiet wandelte sich zu neuen Formen grenzüberschreitender Straftaten, darunter die Fälschung der neuen Euro-Währung und Kreditkarten, Geldwäsche, Wirtschaftskriminalität und Korruption, Umweltkriminalität, Schutzgelderpressung, KFZ-Kriminalität oder Produktpiraterie. Auch Kriminalitätsforschung und grenzüberschreitende Aus- und Fortbildung gehören seitdem zum Repertoire. Nach 9/11 geriet der „Kampf gegen Terrorismus“ und seiner Finanzierung zum neuen zentralen Arbeitsbereich der Behörde. 2002 wurde der Aufgabenbereich erneut auf die Bekämpfung von „illegaler Migration“ und „Menschenhandel“ ausgeweitet. Seit 2002 beteiligt sich Europol an länderübergreifenden „gemeinsamen Ermittlungsgruppen“ („Joint Investigation Teams“, JIT). Die Anbindung an die Verfolgungsbehörden der EU-Mitgliedsstaaten erfolgt durch die nationalen „Europol National Units“ (ENU) und ein undurchsichtiges Netzwerk von VerbindungsbeamtInnen („Europol-Liaison Officers, ELO).
Neuer Rechtsrahmen ab 2010
Bis zum Lissabon-Vertrag galt Europol als zwischenstaatliche Einrichtung der sogenannten „Dritten Säule“ zur polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen (PJZS), in der die EU keine eigenen Beschlüsse fassen konnte. Das EU-Parlament musste lediglich über Veränderungen unterrichtet werden. Mit dem seit 1. Januar 2010 gültigen neuen Europol-Beschluss ist die Behörde in den Rechtsrahmen der EU überführt worden und wird aus dem Gesamtbudget der EU finanziert. Die Aufgabenbereiche wurden im Vertrag von Lissabon als Bekämpfung der „schweren Kriminalität, des Terrorismus und der Kriminalitätsformen, die ein gemeinsames Interesse verletzen“ sehr weitgehend definiert. Voraussetzung ist immer, dass zwei oder mehr Mitgliedstaaten betroffen sind. Europol erhält im Vertrag von Lissabon mit dem Terminus „Verhütung“ auch Kompetenzen zur Gefahrenabwehr. Jedoch dürfen polizeiliche Zwangsmaßnahmen ausschließlich von den Behörden der Mitgliedstaaten vorgenommen werden.
Laut einem Vortrag des früheren Europol-Direktors Max Peter Ratzel liegen die Prioritäten einer „Neuen Europol-Strategie“ in den drei Bereichen „Hauptstütze für die Operationen der Strafverfolgungsbehörden“, „Knotenpunkt kriminalpolizeilicher Informationen“ und „Zentrum für Expertenwissen im Strafverfolgungsbereich“. Die ambitionierten Pläne finden sich auch im Arbeitsprogramm für 2012: Europol will „polizeilicher Hauptansprechpartner“ für Strafverfolgungsbehörden der EU und „Drehscheibe für polizeiliche Informationen“ werden. Vor zwei Jahren waren bei Europol 662 MitarbeiterInnen angestellt. Die Bundesregierung weist aber darauf hin, dass sich die Zahl nicht nur auf das Vertragspersonal der Agentur bezieht. Einbezogen seien demnach auch Personen in den Verbindungsbüros der EU-Mitgliedstaaten bei Europol (ca. 125) und aus den EU-Mitgliedstaaten entsandte Sachverständige. Deutschland stellt 39 MitarbeiterInnen, darunter 13 aus dem Bundeskriminalamt. Im deutschen Verbindungsbüro bei Europol arbeiten acht MitarbeiterInnen und vier Sachverständige. Sofern es sich dabei um PolizistInnen handelt, seien sie laut Bundesregierung vorrangig im „Operations Department“ eingesetzt.
Unterstützung der Mitgliedstaaten bei der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“?
Laut dem Jahresabschluss von 2010 hat Europol die zuständigen Behörden in den Mitgliedstaaten in 11.738 grenzüberschreitenden Fällen unterstützt. Dies entspräche gegenüber 2009 einer Steigerung von 12%. In über 150 „bedeutenden grenzüberschreitenden Ermittlungen“ habe das Amt „analytische und operative Unterstützung“ geleistet. 35% der Operationen betrafen „Drogenvergehen“, wobei sich die „größten operativen Auswirkungen“ laut dem Jahresbericht bei der Bekämpfung von Euro-Fälschungen gezeigt hätten.
Doch die Polizeiagentur hat weitaus Größeres vor: Zukünftig könnte Europol den Mitgliedstaaten auch bei der Aufrechterhaltung der „öffentlichen Sicherheit und Ordnung“ assistieren. So jedenfalls ist in einem Debattenbeitrag der derzeitigen dänischen Ratspräsidentschaft niedergelegt. Zustimmung kommt hierfür aus dem Rat der Europäischen Union. Parallel dazu soll die Zusammenarbeit mit den anderen zehn EU-Agenturen im Bereich Justiz und Inneres intensiviert werden (Eurojust, Frontex, CEPOL, FRA, SITCEN, EMCDDA, CEPOL, OLAF, EASO, IT-Agentur). Hierbei hilft die inzwischen institutionalisierte Zusammenarbeit der Leiter der der Agenturen, deren Vorsitz Europol 2010 inne hatte. Die EU-Agenturen werden wiederum vom COSI koordiniert und in ihrer operativen Zusammenarbeit gefördert.
Die Grenzschutzagentur schlägt vor, beim Erstellen der sogenannten „Risikoanalysen“ zu unerwünschter Migration besser mit Europol zusammenzuarbeiten. Auch mit der Agentur zur Betrugsbekämpfung (OLAF), der Europäischen Polizeiakademie (CEPOL), der Grundrechteagentur (FRA) und dem EU-Geheimdienst (SitCen) soll Europol stärker kooperieren. Das Gleiche gilt für die Europäische Sicherheits- und Verteidigungspolitik (ESDP): Die Mitgliedstaaten sollen erörtern, inwieweit auch hier „Synergien“ erzielt werden können.
Die bessere Verzahnung mit den EU-Institutionen soll Doppelarbeit vermeiden. Dies bedeutet unter anderem, dass der gegenseitige Zugriff auf Informationssysteme erleichtert wird. Die ursprüngliche Zweckbestimmung der Datensammlungen wird damit in vielen Fällen übergangen. Insofern müssten entsprechende Errichtungsanordnungen in vielen Fällen erneuert werden.
Europol gegen „Migrationsdruck“
Was unter neuen „Synergien“ verstanden wird, macht eine neue Initiative der dänischen Ratspräsidentschaft deutlich: Die Regierung in Kopenhagen ventiliert den Vorschlag einer „EU-Aktion gegen Migrationsdruck“. Gefordert werden als „strategische Antwort“ mehr Anstrengungen auch von Europol bei der Bekämpfung unerwünschter Migration. Sofern es das Mandat erlaubt, könnte die EU-KriminalistInnen auch gegen Scheinehen vorgehen, die laut der dänischen Ratspräsidentschaft durch „organisierte kriminelle Gruppierungen“ inszeniert würden.
Die Polizeiagentur soll in die Zusammenarbeit mit Herkunfts- und Transitländern eingebunden werden, um unentdeckte Einwanderungsrouten aufzuspüren. Auch im Rahmen des zur Zeit verhandelten Abschlusses eines Rückübernahmeabkommens zwischen der EU und der Türkei würde Europol demnach eine besondere Rolle spielen. Angestrebt wird der Ausbau der Zusammenarbeit von Europol mit türkischen Polizeikräften und eine hierzu notwendige Arbeitsvereinbarung.
Laut dem Papier der dänischen Regierung könnte dies in der Einrichtung eines „trilateralen gemeinsamen Kontaktzentrums für Polizei-, Grenzschutz- und Zollzusammenarbeit“ zwischen Griechenland, Bulgarien und der Türkei münden. 30 solcher bilateralen Kooperationsprojekte entstehen zur Zeit in zahlreichen EU-Mitgliedstaaten. Ihr Vorbild sind die „Zentren für Zusammenarbeit von Polizei und Zoll“ (PCCC), die als Pilotprojekte an den Grenzen Deutschlands mit Frankreich (Kehl), Polen (Swiecko) und Luxemburg aufgebaut werden.
Europol ist gehalten, sich verstärkt in die Kooperation mit den Zentren von Polizei und Zoll einzubringen. Bereits 2010 hatte die Agentur ein entsprechendes Seminar organisiert. Ohnehin soll Europol mehr in den „westlichen Balkanstaaten“ operieren und arbeitet deshalb mit Polizeien jener Länder zusammen, die sich in der Southeast European Cooperative Initiative (SECI) zusammengeschlossen haben. Nach Vorbild Europols errichten die beteiligten Regierungen (Albanien, Bosnien und Herzegovina, Bulgarien, Kroatien, Griechenland, Ungarn, Mazedonien, Moldawien, Montenegro, Rumänien, Serbien, Slowenien und die Türkei) unter dem Namen Southeast European Law Enforcement Center (SELEC) eine neue Polizeibehörde. Das Vorhaben wird von der EU-Kommission gefördert. Europol soll dabei eine „Schlüsselrolle“ im Bereich Datentausch und operativer Zusammenarbeit übernehmen.
Die Leitung des Projekts liegt beim rumänischen Ministerium für Administration und Inneres. Italien und Österreich, gemeinhin gute Freunde beim Aufbau der rumänischen Sicherheitsbehörden seit dem Sturz Ceausescus, bringen sich als „Partner“ ein. Österreich hatte während des EU-Vorsitzes 2006 mit einigen der SECI-Staaten eine „Partnerschaft für die Sicherheit“ ausgerufen, die zur Basis einer „EU-Sicherheitsstrategie zum Westbalkan“ geriet. Die Initiative wurde noch im gleichen Jahr durch eine „Polizeikooperationskonvention für Südosteuropa“ ergänzt.
In der neuen südosteuropäischen Kooperation greift Europol auf auch auf Erfahrungen der zivilen Verlängerung einer militärischen Intervention zurück. Im Rahmen der Mission EULEX im Kosovo, die als die größte polizeiliche EU-Intervention gilt, ist die Agentur in die zivil-militärische Sicherheitsarchitektur involviert. Die neuerliche Ausweitung dieser Kooperation wurde zuletzt im April 2012 beschlossen.
Zusammenarbeit mit „Drittstaaten“ gefährdet Dominanz nationaler Polizeien
Allerdings ist die neue Europol-Expansion problematisch. Die Agentur will den Mitgliedern der SELEC-Konvention Zugang zu einigen der 21 umfangreichen Analysearbeitsdateien (AWF) gewähren. Die Dossiers der AWF, die gegenwärtig neu strukturiert werden, können getrost als das Herz Europols bezeichnet werden. Bei einer Überlassung des lesenden Zugriffs an das SELEC würden allerdings auch jene Regierungen an den AWF beteiligt werden, die kein hierfür notwendiges Kooperationsabkommen mit Europol unterhalten.
Europol betreibt bereits schwunghaften Austausch von Daten mit sogenannten „Drittstaaten“. Die Grundlage bilden die zuvor abgeschlossenen „Abkommen zur operationellen Zusammenarbeit“. Es gibt zwei Arten dieser Zusammenarbeit: Strategische Abkommen ermöglichen den beteiligten Parteien, mit Ausnahme der personenbezogenen Daten sämtliche Informationen zu tauschen. Operative Abkommen umfassen auch den Austausch personenbezogener Daten.
Die Verbesserung der Zusammenarbeit mit „Drittstaaten“ hätte aber auch zur Folge, dass Europol die gewachsenen nationalen Strukturen von Polizeien der Mitgliedstaaten untergraben würde: So dürften etwa Länder wie Großbritannien, Frankreich, Italien oder Spanien in den früheren Kolonien um die Vorherrschaft ihrer traditionell weit entwickelten Polizeizusammenarbeit fürchten.
Derzeit arbeitet Europol mit 17 Nicht-EU-Staaten, neun EU-Organen und -Agenturen sowie drei weiteren internationalen Organisationen, darunter Interpol, zusammen. Rechtlich problematisch sind die unterschiedlichen Datenschutzstandards der beteiligten Länder. Europol verhandelt beispielsweise auch mit Israel, Albanien, Bosnien, Kolumbien und Russland über eine Partnerschaft. Im Falle Israels würde beim Abschluss eines Abkommens formal auch die Siedlungspolitik der Regierung in Tel Aviv anerkannt – und damit die bislang vertretene, ablehnende Position des Rates der Europäischen Union untergraben.
Womöglich wird Europol zukünftig auch VerbindungsbeamtInnen in „geografisch sensiblen Regionen“ platzieren, wobei in dem entsprechenden Vorschlag offen bleibt, welche Länder damit gemeint sind. Munter wird aber ausgeführt, dass Europol dadurch als Brückenkopf für Polizeien der Mitgliedstaaten fungieren könnte, wenn diese in den Gastländern ermitteln wollen.
„Dataloader“ zur automatischen Befüllung polizeilicher Informationssysteme
Zu den offenen Fragen einer neuen Europol-Rechtsgrundlage gehört vor allem die Erleichterung des Informationsaustausches mit der Agentur. Dabei geht es um das Europol-Informationssystem (EIS) und die Nutzung der sogenannten „Dataloader“ durch die EU-Mitgliedstaaten. Diese automatisierte Übermittlung von Informationen über Personen, Sachen oder Vorgänge wird bereits für 81% aller Einspeisungen in das EIS in Anspruch genommen.
Die Mitgliedstaaten nehmen jährlich rund 10.000 Suchabfragen vor. Laut Europol verkraftet das Informationssystem ohne Probleme die doppelte Menge. Schon jetzt gehört Deutschland zu den vier Hauptlieferanten und Datenstaubsaugern bei Europol: Rund ein Drittel aller Daten im EIS stammen vom Bundeskriminalamt, etwa die gleiche Zahl an Abfragen kam über Wiesbaden. Zur „Spitzengruppe“ gehören außerdem Frankreich, Belgien und Spanien. 70% der per „Dataloader“ gelieferten Datensätze werden von den vier Powerusern herangeschafft.
Einige Mitgliedstaaten begründen ihre Zurückhaltung damit, dass bei der automatisierten Übermittlung per „Dataloader“ qualitativ schlechte und damit für die anderen Mitgliedstaaten unbrauchbare Daten eingestellt werden. Trotzdem will der Rat Schlussfolgerungen verabschieden, um auch die weniger aktiven Mitgliedstaaten unter Druck zu setzen. Die nationalen Europol-Kontaktstellen sollen dann eine feste Quote an übermitteln Datensätzen erfüllen. In der Diskussion sind zudem finanzielle Anreize. Der Vorschlag wird unter anderem von Polen und den Niederlanden unterstützt. Zulässig ist ausdrücklich, dass die Europol-Verbindungsbüros auch solche Informationen anliefern, die außerhalb des Zuständigkeitsbereichs der Agentur liegen. Alle eingespeisten Datensätze dürfen von den Zugriffsberechtigten in den Mitgliedstaaten durchsucht und analysiert werden.
Doch der Datenhunger Europols ist damit längst nicht gestillt: Erörtert wird beispielsweise, inwiefern die Nutzung von „Daten aus dem Privatsektor“ intensiviert werden könnte. Fraglich ist aber, auf welche Art und Weise diese Informationen überhaupt verwertet werden dürfen. Auch ist unbestimmt, wie Provider, Firmen oder Institute auf entsprechende Anfragen zur Herausgabe von Daten reagieren müssen. Da Europol bislang über keine operativen Kompetenzen in den Mitgliedstaaten verfügt, können entsprechende Anfragen zunächst getrost ignoriert werden. Weitaus delikater ist zudem die Frage, inwiefern jene privaten Stellen mit Daten im Gegenzug von Europol beliefert werden dürfen.
Im Rahmen der Kompetenzerweiterung wird darüber diskutiert, ob Europol zukünftig selbst Ermittlungen anstoßen darf (sogenannte „Ermittlungsinitiativen“). Die wesentlich jüngere Agentur Frontex ist dazu im Rahmen seiner „Gemeinsamen Operationen“ bereits ermächtigt. Mit derartigen „Ermittlungsinitiativen“ würde Europol aber tief in die Souveränität der Mitgliedstaaten eingreifen. Im Gespräch ist deshalb eine „Subsidiaritätsprüfung“, also die Festlegung einer Schwelle, bis zu der die nationalen Polizeibehörden zuständig bleiben sollen. Gleichzeitig sollen die Zurückweisungsgründe für derartige operative Maßnahmen eingeschränkt werden.
Wissenschaftliche Bestimmung von Prioritäten folgt politischem Kalkül
Europol arbeitet an der Vorbereitung eines regelmäßigen Berichts zur „Bedrohungslage im Bereich der schweren und organisierten Kriminalität in der Europäischen Union“ (EU SOCTA). Dieses mehrjährige Verfahren soll den Mitgliedstaaten und Agenturen der Europäischen Union ein detailliertes Bild über zukünftige Risiken erlauben. Der Bericht ersetzt die Risikoanalyse zu organisierter Kriminalität ( „Organised Crime Threat Assessment“), die Europol jährlich herausgibt. Der SOCTA soll dann zur Grundlage eines vierjährigen „Politikzyklus“ von 2013-2017 werden, für den die Kommission einen ausführlichen, abgestuften „mehrjährigen Strategieplan“ (MASP) für sowohl präventive als auch repressive Maßnahmen entwickelt hat. Der Strategieplan wiederum mündet in jährliche „Operative Aktionspläne“ (OAP).
Andere EU-Agenturen sollen bei der Erstellung der strategischen Berichte von Europol helfen. Die Grenzschutzagentur Frontex ist angehalten, mit der Jahresrisikoanalyse 2012 einen wichtigen Beitrag für die Fassung des SOCTA 2013 zu leisten.
Dem neuen SOCTA liegt das wissenschaftliche Analyseverfahren der sogenannten „PESTEL-Methode“ zugrunde (Political, Economic, Social, Technological, Enviromental, Legislative). Durch die Gesamtbetrachtung verschiedener Faktoren sollen die verschiedenen Anstrengungen der Europäischen Union auf dem Gebiet von Polizei und Geheimdiensten besser miteinander verzahnt werden.
Die Einführung der neuen Methode geht mit weiteren Workshops und „Expertentreffen“ einher, in die auch externe Berater eingebunden werden. Als wissenschaftliches Verfahren wird für das SOCTA eine solide statistische Grundlage benötigt. Die 27 EU-Mitgliedstaaten sind deshalb aufgefordert, Europol hierzu mit kriminalitätsbezogenen Statistiken zu beliefern. Die Kommission hat hierzu eine Mitteilung zur „Messung der Kriminalität in der EU“ herausgegeben, die einen „Statistik-Aktionsplan 2011-2015“ vorsieht. Dadurch sollen sogenannte „Crime Relevant Factors“ (CRF) identifiziert werden, die mittels eines mathematischen Systems errechnet werden.
Europol will auf diese Weise auch einen Blick in die Zukunft werfen, wofür auf die sogenannte „Delphi-Methode“ zurückgegriffen wird. Das von der RAND-Corporation erdachte Verfahren dient der Vorhersage von Trends ebenso wie technischen Entwicklungen. Weil die beschriebenen wissenschaftlichen Methoden auch für Eingeweihte komplex sind, sollen die Beteiligten mit einem Handbuch ausgestattet werden.
Problematisch ist am neuen SOCTA-Verfahren bei Europol, dass die strategische Bestimmung von Maßnahmen politischem Kalkül unterliegt. So wird versucht, die Wichtigkeit bestimmter Ziele zu priorisieren. Fraglich ist etwa, welchen Stellenwert der Prävention eingeräumt wird, diese also mit einem niedrigen oder höheren mathematischen Faktor versehen wird. Hierfür ist letztendlich Europol verantwortlich.
Fern jeder wissenschaftlichen Annährung an Kriminalitätsphänomene soll auch die Vernetzung unter den Polizeibehörden der Mitgliedstaaten vorangetrieben werden. Hierfür wird am Aufbau einer weiteren Struktur von „Kontaktstellen“ gearbeitet. Hier soll ausgerechnet das Vorgehen gegen „nomadische“ Kriminelle als Beispiel dienen. Auf EU-Ebene werden diese als „itinerant groups“ oder „Mobile Organised Crime Groups“ (MOCG) bezeichnet. Der Kampf gegen diese „Wanderkriminalität“ ist eines der acht Kriminalitätsfelder, die im Vorfeld des SOCTA ermittelt wurden. Die Bundesregierung erklärt, dass sie an dem Projekt nicht beteiligt sei. Wohl aber Europol: Die Polizeiagentur nutzt hierfür ihre Informationssysteme ebenso wie die weitgehenden Analysearbeitsdateien. Diese bilden die Grundlage für „Frühwarnungen“.
„Cyber-Crime-Center“ zur operativen Unterstützung der Mitgliedstaaten
Die Vernetzung mit den Strafverfolgungsbehörden der Mitgliedstaaten geht mit dem Aufbau einer weiteren informellen Struktur einher, an der auch Europol teilnimmt: Das „European Network of Law Enforcement Technology Services“ (ENLETS). ENLETS wurde im September 2008 unter französischer Präsidentschaft gegründet, die Kommunikation wird über eine eigens bei Europol errichtete elektronische „IT-Plattform für Experten“ betrieben. Als „Nationale Kontaktstelle“ hat die Bundesregierung einen Mitarbeiter der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster benannt.
Das Ziel der undurchsichtigen Vernetzung ist die Mitbestimmung zukünftiger Sicherheitsforschung. Zudem soll sichergestellt werden, dass die Beteiligten von Forschungsergebnissen im Rahmen des 7. EU-Forschungsrahmenprogramms profitieren. In diesem Zusammenhang hat letztes Jahr auch der Koordinator des umstrittenen Sicherheitsforschungsprojekts INDECT an einem ENLETS-Treffen teilgenommen.
Die in ENLETS getauschten Erfahrungen dürften auch für das neue „EU-Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität“ wichtig sein, dessen Errichtung die Kommission im März ankündigte und das bei Europol angesiedelt wird. Diese „europäische Schaltstelle für die Bekämpfung von Cyberstraftaten“ verschafft der Polizeiagentur einen erneuten Gewinn auf dem Weg zu mehr operativen Kompetenzen. Das Zentrum soll nach Willen der Kommission im Januar nächsten Jahres seine Arbeit aufnehmen.
Auf dem Radar des „Cyber-Crime-Centers“ steht laut Kommission die Bekämpfung der „organisierten Kriminalität“, „Straftaten mit schwerwiegenden Folgen für die Opfer“ und „Straftaten gegen kritische Infrastrukturen oder Informationssysteme“. Auf dem Spiel stünden angeblich jährlich im Internet umgesetzte acht Billionen US-Dollar: „Wir dürfen nicht zulassen, dass Cyberkriminelle unser digitales Leben zerrütten“, schwadroniert die Kommission. Europaweit sollen der Polizeiagentur deshalb Informationen über „Cyberstraftaten“ angeliefert werden.
Die neue Einrichtung will die Behörden in den EU-Mitgliedstaaten nicht nur warnen, sondern auch beim Aufbau „geeigneter Kapazitäten“ unterstützen. Auch bei „konkreten Untersuchungen“ soll Europol die nationalen Polizeien „operativ unterstützen“.
Hierfür soll die Polizeiagentur „Informationen aus offenen Quellen, aus der Privatwirtschaft, von Polizeidiensten und aus akademischen Kreisen“ zusammentragen. Umgekehrt sollen entsprechende Anfragen von „Ermittlern, Richtern und Staatsanwälten sowie aus dem Privatsektor“ beantwortet werden.
Auch hier winken weitere Verantwortlichkeiten: Längst wird diskutiert, ob Europol die Polizeien der Mitgliedstaaten bei einer „besser strukturierten“ Überwachung des Internet helfen soll. Dies würde womöglich den Prinzipien der Europäischen Union zuwiderlaufen: Demnach dürfen Einrichtungen der EU keine Aufgaben übernehmen, die bereits in den Mitgliedstaaten verrichtet werden.
Jetzt werden die Ratsschlussfolgerungen zum „Zentrum zur Bekämpfung der Cyberkriminalität“ beraten. Vor allem die Finanzierung ist unklar: Bis Ende 2013 soll ein „Implementierungsteam“ eingerichtet werden, um den Ressourcenbedarf zu ermitteln. Die Kosten können vermutlich nicht aus dem Haushalt von Europol übernommen werden.
Parlamentarische Kontrolle von Europol nicht für Operationen und Ausrüstung
Die neuen Kompetenzen von Europol werden jetzt im „Ständigen Ausschuss für die operative Zusammenarbeit im Bereich der inneren Sicherheit“ eingefädelt. Als Ergebnis soll bald eine Übersicht über die Positionen der Mitgliedstaaten vorliegen. Auf Grundlage dieses Berichts will der Rat eine Zusammenfassung über zukünftige „Nutzungsanforderungen“ erstellen. Diese wiederum werden von der Kommission in ihrem Vorschlag einer neuen Europol-Verordnung berücksichtigt. Der Verordnungsvorschlag soll im November vorgelegt werden und sowohl Aufgaben, Aufbau, Arbeitsweise und den Tätigkeitsbereich definieren.
Parallel dazu wird auch über die zukünftige parlamentarische Kontrolle von Europol verhandelt. Hierzu hatte die Kommission im April Vertreter nationaler Parlamente und des Europäischen Parlaments eingeladen. Doch das zweistündige Treffen kann kaum als ernsthafte Debatte gelten: Auch der neue Rechtsrahmen von Europol wurde referiert.
Die Kommission bietet den Abgeordneten an, sich zukünftig durch jährliche Rechenschaftsberichte und interparlamentarische Aussprachen mit dem Direktor von Europol informieren zu können. Dies beträfe aber nur die Strategie von Europol, die Beratungen über Mehrjahresprogramme oder die „Sicherheitslage in der EU“. Der zu etablierende Kontrollmechanismus könnte unter Umständen als „interparlamentarisches Forum“ daher kommen. Es soll sich dabei lediglich um einen Gedankenaustausch handeln. Jegliche „Ko-Administration“ wird von Europol abgelehnt. Die parlamentarische Aufsicht würde im „Ausschuss für Bürgerliche Freiheiten, Justiz und Inneres“ (LIBE) des Europäischen Parlaments verbleiben.
Auch ein „Dringlichkeitsmechanismus“ für spontane Informationsersuchen steht zur Debatte. Die Abgeordneten nationalen Parlamente sollen immerhin im Vorfeld etwaiger Sitzungen, die sich mit Europol befassen, mit „relevanten Dokumenten“ versorgt werden. Möglich wäre auch die Entsendung eines Vertreters des Europäischen Parlaments in den Europol-Verwaltungsrat. Die jeweilige Abgeordnete könnte dann im Verwaltungsrat bei der Ernennung des Europol-Direktors mitbestimmen.
Jedoch ist unklar, wie das Tagesgeschäft der EU-Polizeiagentur kontrolliert werden soll. Dies ist Abgeordneten bislang unmöglich: Anfragen von deutschen Abgeordneten zur Ausrüstung, Vorgehensweise oder zu konkreten Operationen werden von der Bundesregierung mit Nichtwissen beantwortet. Anscheinend sind viele ParlamentarierInnen aber mit den wenigen Zugeständnissen von Europol und der Kommission einverstanden – so jedenfalls frohlockt es die Kommission über den „Meinungsaustausch“ im April.
Gegenwärtig führt der europäische Ableger der RAND Corporation eine Evaluierung der Aktivitäten von Europol durch. Ergebnisse und Vorschläge zur Erweiterung der Kapazitäten sollen im Juni 2012 vorliegen. Womöglich soll eine Folgenabschätzung nachgeschoben werden. Auf mehr direkten „Meinungsaustausch“ mit ParlamentarierInnen möchte die Kommission danach gern verzichten. Etwaige Eingaben für den Verordnungsvorschlag im November sollen nur noch schriftlich erfolgen.
Deutlich wird, dass sich die EU-Polizeiagentur längst zur anvisierten „Hauptstütze für die Operationen der Strafverfolgungsbehörden“ im Rahmen grenzüberschreitender Maßnahmen entwickelt hat. Jetzt muss nur noch der Mief des alten Hauptquartiers gelüftet werden: Scheinbar werden den Mitarbeitern von Europol die geforderten operativen Kompetenzen nicht zugetraut.
Der Wille dies zu ändern zeigt sich besonders plakativ in der Ausschreibung des jährlichen Wettbewerbs um das „Foto des Jahres 2012 zum Thema Strafverfolgung“. Europol möchte das Image der im Hintergrund agierenden Schreibtischtäter überwinden. Mit dem neuen, überdimensionierten Hauptquartier gehen die EU-Kriminalisten in die Offensive: Die Bewerbungen für ein „typisches Gewinnerfoto“ sollen „alle Aspekte der modernen Strafverfolgung“ abdecken. Europol versteht darunter „Echte Einsätze, Tatort, Razzien und Beschlagnahmungen“.