Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Reisebericht von Andrej Hunko

Vom 01. bis 05.07.2012 reiste ich als Berichterstatter der Linksfraktion im EU-Ausschuss in die Türkei.

Dort nahm ich am 02.07.12 gemeinsam mit etwa 30 000 Menschen an der Gedenkdemonstration zum 19. Jahrestag des pogromartigen Massakers in Sivas teil. An der Demonstration beteiligten sich viele linke Gruppierungen aus der Türkei, u. a. auch der Vorsitzende der prokurdischen BDP, Selahattin Demirtas. Entlang der Demonstrationsroute waren auf den Dächern der Häuser Scharfschützen aufgestellt.

Etwa 400 m vor dem Hotel Madimak, an dem 1993 eine aufgehetzte Menge einen Kongress von überwiegend alevitischen Intellektuellen und Künstler/innen belagerte, wurde die Demonstration durch ein massives Polizeiaufgebot gestoppt. Nach etwa 30-minütigen Verhandlungen mit Vertretern des verantwortlichen Gouverneurs konnte die Demonstration in die unmittelbare Nähe des Hotels weiterziehen. Die Präsenz des nordrhein-westfälischen Landtagsabgeordneten Felix von Grünberg (SPD) und mir, in Verbindung mit dem friedlichen aber ausgesprochen entschlossenen Charakter der Demonstration, ermöglichte die Auflösung der Behinderungen durch die Polizei.

Am Rande der Demonstration sprach ich mit Angehörigen der 33 bei dem Massaker ums Leben gekommenen Tagungsteilnehmer/innen. Ihr Hauptanliegen ist die Anerkennung des damals mit staatlicher Unterstützung begangenen Unrechts, die Verurteilung der Täter sowie die Einrichtung einer Gedenkstätte. Dies sind auch die zentralen Forderungen der Alevitischen Gemeinde bezüglich des Massakers.

Hintergrund der aktuellen Empörung der Alevitischen Gemeinde ist die vor wenigen Wochen erfolgte Einstellung der Verfahren gegen die mutmaßlichen Mörder, in Verbindung mit der Tatsache, dass sämtliche Anwälte der Angeklagten Parlamentsangehörige der AKP sind. Etliche der mutmaßlichen Täter leben mit Unterstützung der Bundesregierung in Deutschland.

Am 03.07.12 nahm ich in der Stadt Çorum, gemeinsam mit etwa 3 000 Menschen, am Gedenkzug für die Angehörigen des dortigen Massakers an der alevitischen Minderheit im Jahr 1980 teil. In Çorum war, im Gegensatz zu Sivas, kein sichtbares Polizeiaufgebot präsent. An der Reaktion auf meine Rede merkte ich, wie wichtig es war, dass ich als linker deutscher Politiker vor Ort sein konnte.

Sowohl in Sivas als auch in Çorum migrierte ein großer Teil der Alevitinnen und Aleviten aufgrund der Massaker bzw. der Verfolgung in verschiedene europäische Länder oder in die Westtürkei. Dadurch nahmen auch sehr viele deutschsprachige Alevit/innen an den Gedenkveranstaltungen teil. Sie haben ihre politische und kulturelle Identität erhalten und weiterentwickelt. Die jährlichen Gedenkveranstaltungen zum 02.07. sind für die alevitische Bewegung identitätsbildend. Sie stellen einen Höhepunkt des Lebens der alevitischen Gemeinde dar.

Neben den zahlreichen Gesprächen mit Angehörigen der Opfer der Massaker konnte ich Gespräche mit Vertreter/innen der verschiedenen Alevitischen Verbände führen, darunter mit dem Vorsitzenden der Alevitischen Union Europa, Turgut Öker.

Im Anschluss besuchte ich das Gefängnis in Urfa, wo bei einem Gefängnisbrand in der Nacht zum 17.06.12 13 Menschen ums Leben kamen. Mein Besuchsantrag für den in Urfa inhaftierten Abgeordneten des türkischen Parlaments, Ibrahim Ayhan, wurde ohne Angaben von Gründen vom türkischen Außenministerium abgelehnt. Nichtsdestotrotz fuhr ich nach Urfa und führte dort zahlreiche Gespräche, u. a. mit dem Generalstaatsanwalt von Urfa, Mustafa Yalcön, dem nach dem Brand neu eingesetzten Gefängnisdirektor, Ergün Dinc, dem politischen Berater von Ibrahim Ayhan, Sıtla Dehşet, sowie dem Anwalt von Ibrahim Ayhan, Bekir Benek.

Mein Gesamteindruck aus diesen Gesprächen ist, dass die Ereignisse vom 17.06.12 nach wie vor unaufgeklärt sind und die türkischen Behörden wenig Interesse an einer Aufklärung haben. Nach Darstellung aus dem Umfeld von Ibrahim Ayhan ist die Revolte im völlig überfüllten Gefängnis ausgebrochen, nachdem Wärter bei über 40° Hitze die Ventilatoren ausgebaut hatten. Ein Schreiben des inhaftierten Abgeordneten Ibrahim Ayhan liegt mir vor und ich lasse es übersetzen.

Am 05.07.12, dem letzten Tag meiner Reise, besuchte ich die Streikenden Beschäftigten von Türkisch Airlines am Istanbuler Flughafen. Anlass des Kampfes ist eine durch das türkische Parlament gepeitschte Änderung des Artikels 29 der türkischen Verfassung, die ein vollständiges Verbot von Streiks in der zivilen Luftfahrt beinhaltet. Aus Protest gegen dieses Verbot ließen sich am 29.05.12 zahlreiche Beschäftigte der Türkisch Airlines krank schreiben. Unmittelbar danach wurden 305 Beschäftigte per SMS fristlos gekündigt. Die Gewerkschaft Hava-İş startet nun eine langangelegte und internationale Kampagne zur Wiedereinstellung der Gekündigten und zur Rücknahme des Streikverbots.

Der Präsident von Hava-İş, Atilay Aycin, den ich am Flughafen traf, sagte dazu: „Für uns bedeutet das, alles oder nichts. Wir werden entweder gewinnen oder untergehen. Es gibt keine andere Wahl, weil wir nicht die Absicht haben eine nichtfunktionierende Gewerkschaft zu werden.“

(Presselinks zum Treffen mit Hava-İş: airporthaber.com; airkule.com; cnnturk.com; etha.com)

Anschließend traf ich mich mit Mehmet Aydogan, dem Sprecher der Dachgewerkschaft des öffentlichen Dienstes (KESK), dem Rechtsanwalt der Gewerkschaft, Metin Iriz, sowie mit Emma Sinclair-Webb, der Vertreterin von Human Rights Watch für die Türkei zu einem gemeinsamen Gespräch.

KESK ist in den letzten Jahren zunehmend zum Kristallisationspunkt des Widerstandes gegen die autoritäre Entwicklung in der Türkei geworden. An den Generalstreiks, die von KESK ausgerufen wurden, beteiligten sich weit mehr als die 240 000 Mitglieder der Gewerkschaft. So zum Beispiel am Streik gegen die neuen Schulgesetze, die einerseits zu einer Islamisierung des Schulunterrichts führen, und, so die Befürchtung von Aydogan, auch zu einer Zunahme von Kinderarbeit.

Aufgrund ihres Kampfes sind die Mitglieder und das Umfeld von KESK zunehmend zur Zielscheibe der Repression der AKP-Regierung geworden. Es gibt praktisch wöchentlich Verhaftungswellen sowohl gegen führende als auch gegen einfache Mitglieder der Gewerkschaft. Grundlage dafür liefern die beliebig dehnbaren KCK-Vorwürfe. Allein zwischen dem 25. und dem 28.06.12 wurden 58 KESK-Mitglieder verhaftet, davon waren zum Zeitpunkt meines Besuches noch 28 im Gefängnis; es gab in diesem Zeitraum 72 Hausdurchsuchungen. Alle 14 Tage gebe es neue Verhaftungswellen, so Mehmet Aydogan und Metin Iriz. Die Türkei verwandele sich mehr und mehr in ein „offenes Gefängnis“.

Zum Abschluss meiner Reise traf ich mich mit Tayfun Mater, dem außenpolitisch Verantwortlichen der Schwesterpartei der LINKEN in der Türkei, ÖDP, um über die Situation der Linken in Europa zu sprechen.

Mein Gesamteindruck dieser Reise ist, dass sich die menschenrechtliche und rechtsstaatliche Situation in der Türkei dramatisch verschlechtert. Eine Entwicklung, die nach meiner Beobachtung vor etwa einem Jahr, unmittelbar nach den türkischen Parlamentswahlen, eingesetzt hat. Diese Entwicklung spiegelt sich in keinster Weise, weder in der öffentlichen Darstellung in den deutschen Medien, noch in den Äußerungen der Bundesregierung wieder. Nach meinem Eindruck wird der Regierung Erdogan seitens Regierungen der BRD, der EU und der USA im Augenblick freie Hand bei der autoritären Umwandlung der Türkei gegeben. Hier spielen offenbar geostrategische und nicht menschenrechtliche Kriterien die entscheidende Rolle. Auch ein durchaus kritischer Bericht über die Situation in den kurdischen Gebieten des Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung, Markus Löning, scheint keinen Einfluss auf die Politik der Bundesregierung zu haben und wird in der Öffentlichkeit fast gar nicht wahrgenommen. Die kritische Thematisierung der Entwicklung in der Türkei und die Solidarisierung mit den demokratischen Kräften bleibt das Gebot der Stunde.

 

 

 

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

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