Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Von Andrej Hunko

Zum Abschluss seines Textes "Putin reagiert" schrieb der renommierte US-amerikanische Politikwissenschaftler und die vielleicht wichtigste Stimme in den USA gegen eine weitere Aufrüstung der Ukraine, John Mearsheimer, bereits vor einem halben Jahr:

"Die USA und ihre europäischen Verbündeten stehen in der Ukraine-Frage vor einer Entscheidung. Sie können ihre aktuelle Politik fortführen und so die Feindseligkeiten mit Russland verschärfen und die Ukraine zu Grunde richten – ein Szenario, aus dem alle Beteiligten als Verlierer hervorgehen würden. Oder sie können umsteuern und eine wohlhabende, aber neutrale Ukraine anstreben, die keine Bedrohung für Russland darstellt und es dem Westen erlaubt, seine Beziehungen zu Moskau zu kitten. Mit einem solchen Ansatz würden alle Seiten gewinnen."

Die Minsker Vereinbarungen können als gegenwärtig wichtigster Versuch angesehen werden, diese Verschärfung der Lage zu verhindern. Der entscheidende Schritt zur weiteren Verschärfung wäre die in US-Regierungskreisen diskutierte Waffenlieferung an Kiew. Laut einer Emnid-Umfrage lehnen 81 Prozent der Menschen in Deutschland Waffenlieferungen an Kiew ab. Dies ist der innenpolitische Hintergrund für Merkels Initiative in Minsk. Die Initiative von Merkel und Hollande setzt sich ein Stück weit vom Eskalationskurs der USA und ihrer engsten europäischen Verbündeten ab.

Waffenruhe oder Ausweitung der Kriegshandlungen?

Zugleich bleiben die De-Eskalationsbemühungen halbherzig. Ähnlich wie bei den Minsker Vereinbarungen im vergangenen September sind auch dieses Mal nur wenige Tage nach der Unterzeichnung weitere Sanktionen von der EU gegen Russland verhängt worden.

Gleichzeitig laufen innerhalb der Ukraine die Bemühungen, Minsk zu torpedieren, auf Hochtouren: Poroschenko wird massiv vom Rechten Sektor und anderen nationalistischen Gruppen unter Druck gesetzt, von Oligarchen kontrollierte Fernsehsender weigern sich, seine Ansprache zu den Minsker Vereinbarungen auszustrahlen, der Ministerpräsident Jazenjuk, der die Linie der US-Falken vertritt, will von den Minsker Vereinbarungen nichts wissen. Der neue ukrainische Botschafter in Deutschland spricht von einem Fetzen Papier.

Zur Stunde ist völlig offen, ob die Minsker Vereinbarungen letztlich doch den Weg zu einer Waffenruhe ebnen oder ob wir vor einer neuen Ausweitung der Kriegshandlungen stehen. Knapp ein Jahr nach dem verfassungswidrigen Umsturz in Kiew sollten sich auch für Menschen, die mit den Maidan-Protesten sympathisiert hatten, einige Fragen stellen: Haben die Entwicklungen nach dem Maidan wirklich zur Demokratisierung der Ukraine beigetragen? Ist die Macht der Oligarchen kleiner geworden? Gibt es eine Aussicht auf die Verbesserung der sozialen Lage der Menschen? Der ewige Verweis auf Putin kann hier nicht immer als Ausrede gelten.

»Bürgerkrieg und Brudermord«

Der bekannte ukrainische Journalist Ruslan Kotsaba aus Ivano-Frankivsk in der Westukraine, der selbst ein Unterstützer des Maidan war, spricht mittlerweile von einem "Bürgerkrieg und Brudermord" im Osten des Landes und ruft alle vernünftigen Menschen auf die neue Mobilmachungswelle zu boykottieren. Am 08. Februar 2015 wurde Ruslan Kotsaba durch den ukrainischen Geheimdienst verhaftet und wird seitdem mit der Beschuldigung des Hochverrats gefangen gehalten. Ihm drohen bis zu 15 Jahre Gefängnis. Amnesty International bezeichnet die Inhaftierung als Gefangennahme aus Gesinnungsgründen.

Ein Jahr nach dem Maidan ist eine Neubewertung der Entwicklung in der Ukraine dringend notwendig. Es muss endlich Schluss sein mit der Verharmlosung und Bagatellisierung der rechtsextremen und nationalistischen Kräfte. Es muss anerkannt werden, dass die Menschen im Osten und Süden der Ukraine geopolitisch und kulturell anders orientiert sind als die im Westen der Ukraine. Auch ihnen dürfen grundlegende demokratische Rechte, wie etwa der Wunsch nach einer föderalen Struktur des Landes, nicht länger verwehrt werden.

Langfristig hat nur eine geopolitisch neutrale Ukraine, in der diese unterschiedlichen Orientierungen respektiert werden und die auf Demokratie, soziale Gerechtigkeit und Frieden setzt, eine Zukunft. Diese wird es aber nur dann geben, wenn diejenigen im Westen zurückgedrängt werden, die die Ukraine zu einem Frontstaat eines großen Krieges gegen Russland ausbauen wollen. Die 81 Prozent in Deutschland, die sich gegen Waffenlieferungen aussprechen, sind ein hoffnungsvolles Zeichen, dass ein solcher Kriegskurs auf erheblichen Widerstand hierzulande stoßen würde.

Dieser Artikel erschien auch auf linksfraktion.de.

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko