In der Corona-Krise hat die EU versagt – auch, weil Militarisierungsprojekten wesentlich mehr Aufmerksamkeit geschenkt wurde als dem Katastrophenschutz und dem sozialen Zusammenhalt. Aus der Krise zu lernen muss heißen, das Soziale an erste Stelle zu setzen. International wollen wir weder eine Rückkehr zum deutschen Nationalismus noch einen neuen EU-Nationalismus, der sich zum Strafrichter über große Teile der Welt aufspielt.
Rede von Andrej Hunko (DIE LINKE) im Bundestag am 02.07.2020 zur Debatte über die deutsche EU-Ratspräsidentschaft
Andrej Hunko (DIE LINKE):
Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nach dem Brexit wird die EU nur noch weniger als 40 Prozent des geografischen Europas darstellen. Vier der fünf größten Städte Europas – Istanbul, Moskau, London, Sankt Petersburg; all das sind europäische Städte – werden außerhalb der EU sein. Über den Beitrittsprozess der Türkei redet keiner mehr. Wohin die Reise auf dem Westbalkan geht, steht in den Sternen. Ich denke, vor diesem Hintergrund braucht es ein bisschen mehr Bescheidenheit und ein bisschen mehr Reflexion statt einer Parole „Make Europe strong again“.
(Beifall bei der LINKEN)
Frau Staffler, in der akuten Coronakrise hat die EU tatsächlich versagt, als Italien und Spanien den Zivilschutzmechanismus aktivierten und kein EU-Staat reagierte. Stattdessen wurden in den letzten Jahren militärische Mechanismen, militärische Projekte vorangetrieben. Ich rede von PESCO, was sich mittlerweile als teures Fiasko entpuppt.
(Beifall bei der LINKEN)
Wir sagen: Lernt aus der Coronakrise! Stärkt den zivilen und sozialen Zusammenhalt in Europa! Das ist die wirklich schlafende Schönheit Europas, nicht PESCO.
(Beifall bei der LINKEN – Abg. Christian Petry [SPD] meldet sich zu einer Zwischenfrage)
Soll ich eine Frage beantworten?
Vizepräsident Dr. Hans-Peter Friedrich:
Wenn Sie die Zwischenfrage zulassen, bitte schön.
Andrej Hunko (DIE LINKE):
Ja.
Christian Petry (SPD):
Herr Kollege Hunko, ich sehe es etwas positiver als Sie. Die Europäische Union kann die Krise als Chance begreifen, um sich zu stärken. Was wir heute aber noch nicht angesprochen haben, wozu ich gerne von Ihnen wissen möchte, ob Sie dies auch so sehen: Wir könnten auch auf einem anderen Feld weiterkommen, nämlich bei der Europäischen Menschenrechtskonvention, indem wir es schaffen, dafür zu sorgen, dass die Europäische Union dieser beitritt. Dies könnten wir dann auch als einen Erfolg der Ratspräsidentschaft sehen.
Bei aller Kritik, die Sie eben genannt haben, was schiefgelaufen ist, wünsche ich mir den Blick nach vorne. Sehen Sie nicht auch eine Chance, wenn wir den Blick positiv nach vorne richten und bei den nächsten Maßnahmen, die wir ergreifen, eben nicht diese Fehler machen, sondern die deutsche Ratspräsidentschaft nutzen, um dort voranzukommen?
(Beifall bei Abgeordneten der SPD und des Abg. Dr. Diether Dehm [DIE LINKE])
Andrej Hunko (DIE LINKE):
Vielen Dank, Herr Kollege Petry. – Sie sprechen die Europäische Menschenrechtskonvention an. Ihr Kollege hat ja eben hier die Grundrechte der EU ausführlich dargestellt. Das Problem ist: Diese sind nicht einklagbar. Die Europäische Menschenrechtskonvention dagegen sieht ein Individualklagerecht beim Straßburger Gerichtshof für alle 820 Millionen Menschen in Europa vor. Ich finde Ihre Forderung völlig richtig. Auch wir fordern das seit Langem. Ich fordere auch die Bundesregierung auf, den Beitritt der EU zur viel älteren Menschenrechtskonvention auf den Weg zu bringen.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)
Wir wollen nämlich weder eine Rückkehr zum deutschen Nationalismus noch einen neuen EU-Nationalismus deutscher Prägung, der sich als Strafrichter über große Teile der Welt aufspielt.
(Beifall bei der LINKEN)
Was wir brauchen, ist mehr europäische Kooperation, gesamteuropäische Kooperation als Teil internationaler Kooperation, auch in Zukunft mit Großbritannien, auch mit Russland und mit China. Ich denke, das wäre der Geist, den die Bundesregierung für die EU-Ratspräsidentschaft mitnehmen sollte. Ich bedanke mich für die Aufmerksamkeit.
(Beifall bei der LINKEN sowie bei Abgeordneten der SPD)