Der Aachener Bundestagsabgeordnete Andrej Hunko sitzt für die LINKE im Ausschuss für EU-Angelegenheiten und ist Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates. Mit ihm sprach in Diyarbakir Martin Dolzer.
ND: Sie waren bei den türkischen Parlamentswahlen am Sonntag Wahlbeobachter für den Europarat und Koordinator der Wahlbeobachter der LINKEN. Was genau haben Sie gemacht?
Hunko: Für den Europarat bin ich zusammen mit der französischen Senatorin Josette Durrieux in Van gewesen. Dort haben wir einige Wahllokale besichtigt, auch im Gefängnis von Van. Von dort aus sind wir dann nach Diyarbakir gefahren, wo wir uns u.a. mit der Aachener Friedenspreisträgerin Leyla Zana getroffen haben, die als unabhängige Kandidatin gewählt wurde. Parallel dazu stand ich den ganzen Tag in permanentem Kontakt mit den etwa zwei Dutzend Wahlbeobachtern der deutschen LINKEN, die auf Einladung der linkskurdischen BDP in der Region unterwegs waren. Sie haben immer zu zweit und mit einem Dolmetscher sensible Wahllokale besucht, in denen Probleme befürchtet wurden.
Und gab es Probleme?
Ja. Das Hauptproblem war die massive Präsenz staatlicher »Sicherheitskräfte«, von Polizei, Gendarmerie und Militär, in den Wahllokalen.
Grundlage dafür ist eine Änderung des türkischen Wahlgesetzes, die es diesen Kräften erlaubt, sich bis auf 15 Meter statt wie bisher bis auf 100 Meter den Wahlurnen zu nähern. Wir haben aber in fast allen besuchten Orten Polizei, manchmal auch Militär, in den Wahllokalen selbst, ja sogar im unmittelbaren Wahlzimmer gesehen. Meine französische Begleiterin mit über 50 Wahlbeobachtungen u.a. in Palästina und Aserbaidschan sagte, sie habe eine so massive Präsenz von staatlichen Sicherheitskräften noch nie erlebt.
Es wurde dann sogar von Toten berichtet. (siehe 1.)
In der kurdischen Stadt Sirnak wurde eine feiernde Menge mit einer Handgranate attackiert. Drei Menschen starben dabei, über zehn wurden verletzt. Eine Gruppe des Bundestagsabgeordneten Harald Weinberg befand sich nur zehn Meter entfernt vom Ort der Explosion. In den Provinzen Van und Agri wurden besonders junge Menschen aus den Wahllokalen geprügelt oder gewaltsam am Wählen gehindert.
Und jenseits solcher Gewalt?
Es fiel auf, dass die Stimmzettel so gestaltet wurden, dass die Parteien sehr gut lesbar in großer Schrift und mit großen Symbolen sichtbar waren, während die unabhängigen Kandidaten keine Bilder hatten und ihre Schrift schwer lesbar war. Für ältere Menschen oder Analphabeten war es so kaum möglich, sie zu wählen. Gerade das Bündnis der kurdischen BDP und vieler türkischer Linken ist aber mit unabhängigen Kandidaten angetreten, um die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde zu umgehen.
Worauf führen Sie diese Behinderungen zurück?
Das zielt mit einer Reihe anderer Änderungen im Wahlgesetz und verschiedenen Repressionen eindeutig darauf, eine parlamentarische Vertretung der kurdischen Bewegung zu verhindern oder möglichst klein zu halten. Politisch finde ich das fatal. Wenn man den türkisch-kurdischen Konflikt friedlich lösen will, dann darf ein demokratischer Weg auf keinen Fall verbaut werden.
Wie bewerten Sie die Wahl insgesamt?
Zunächst einmal ist die extrem hohe Wahlbeteiligung von 84 Prozent bemerkenswert. Das zeigt einen hohen Politisierungsgrad. Die regierende konservativ-neoliberale AKP hat zwar weiter Stimmen gewonnen, ihr selbstgestecktes Ziel einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Parlament jedoch deutlich verfehlt. Ich bin sehr froh darüber, weil ansonsten die Verabschiedung einer neuen Verfassung praktisch im Alleingang möglich gewesen wäre. Dennoch halte ich die Gefahr einer autoritären Entwicklung in der Türkei für sehr real, bis hin zur militärischen Lösung der kurdischen Frage.
Der eigentliche Gewinner der Wahl ist jedoch der BDP-geführte »Block für Arbeit, Freiheit und Demokratie«, der nach bisher 22 nun 36 Abgeordnete stellt. Natürlich sind die meisten kurdische Kandidaten. Gleichwohl bleibt die Perspektive eines dauerhaften Bündnisses zwischen der türkischen Linken und der erstarkten kurdischen Bewegung vielversprechend.
(1.) Der zwischenzeitliche Informationsstand von drei Toten hat sich glücklicherweise nicht bestätigt. 14.06.2011