Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Die große Koalition von 2005 – 2009 war keine Wunschkoalition. Die Sozialdemokraten wollten mit Schröder und Fischer die rot-grüne Koalition der vorangegangenen Jahre fortsetzen, die CDU wollte gemeinsam mit der FDP an die bleierne Zeit der Kohl-Ära anknüpfen. Durch den Einzug der Linkspartei in den Bundestag reichte es jedoch weder für eine schwarz-gelbe, noch für eine rotgrüne Mehrheit.

Es kam zum zweiten Mal in der bundesdeutschen Geschichte zur „großen Koalition“ von SPD und CDU. Die erste große Koalition von 1966-1969 fiel mit dem Aufbruch der 68er Jahre zusammen; am Ende stand ein Linksrutsch der Gesellschaft – sowohl parlamentarisch als auch außerparlamentarisch. Trotz Wirtschaftskrise, Massenarbeitslosigkeit und Lohndumping ist am Ende der zweiten großen Koalition ein vergleichbarer Aufbruch nicht in Sicht.

Die Mehrwertsteuerlüge

Die CDU kündigte im Wahlkampf 2005 die Erhöhung der Mehrwertsteuer von 16% auf 18% an. Mehrwertsteuererhöhung schlägt voll auf die Gebrauchsgüter um und trifft damit immer in erster Linie die finanziell Schwachen. Ein gefundenes Wahlkampfthema für die SPD: „Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer. Nicht in nächster Zeit und nicht in der kommenden Legislaturperiode“ (Franz Müntefering, Sächsische Zeitung, 19. August 2005) war eine der zentralen Wahlaussagen.

Eine der ersten Maßnahmen der großen Koalition war dann die Erhöhung der Mehrwertsteuer auf 19%. Kompromisse sind in der Politik sicher manchmal nötig. Warum aber der Kompromiss zwischen 16% und 18% bei 19% liegt, bleibt sozialdemokratisches Geheimnis. Aber wie sagte Franz Müntefering „Es ist unfair, Politiker an ihren Wahlversprechen zu messen“.
Diese Entscheidung sollte richtungsweisend für die große Koalition sein.

Rente mit 67 - Arbeiten bis der Arzt kommt

Insgesamt verabschiedeten die Angeordneten in der Legislaturperiode ca. 600 Gesetze. Eines der Gesetze mit den nachhaltigsten Auswirkungen auf die Lebensbedingungen der meisten Menschen ist das „RV-Altersgrenzenanpassungsgesetz“ (Rente mit 67), das am 30.3.2007 gegen heftigen Widerstand in der Bevölkerung mit den Stimmen von SPD und CDU beschlossen wurde.

Angesichts der Lage auf dem Arbeitsmarkt bedeutet das Gesetz eine drastische Rentenkürzung. Alterarmut wird in den nächsten Jahren dramatisch zunehmen. Wieder war es Franz Müntefering, der das Gesetz gegen Kritik aus Gewerkschaften und Seniorenverbänden verteidigte: „Darauf sind wir auch stolz“ sagte er in Bezug auf die beschlossene Absenkung des Rentenniveaus auf 46% bis 2020.

Hartz-IV-Schraube weiter gedreht

Der eigentliche Kernpunkt bei der Einführung Hartz-Gesetze durch die rot-grüne Bundesregierung war die Rechtsumkehr: Galt bis dahin prinzipiell, dass Erwerbslose Versicherungs- und Qualifikationsschutz hatten und es Aufgabe der Gesellschaft war, ausreichend Arbeitsplätze zur Vefügung zu stellen, so hat sich das mit Einführung von Hartz IV grundlegend geändert. Erwerbslosigkeit wird auf Versagen des Einzelnen zurück geführt, Aufgabe des „Arbeitsagenturen“ und ARGEn ist es die Erwerbslosen zu „motivieren“, zu „fördern“ und zu „fordern“.Der Rahmen der Hartz-Gesetze ermöglicht es der jeweiligen Bundesregierung die Stellschrauben entsprechend der Kapitalinteressen unter Berücksichtigung der politischen Stimmung zu drehen.

Das so genannte Hartz-IV-Fortentwicklungsgesetz aus dem Jahre 2006 war eine weitere Umdrehung an der Hartz-Schraube: Arbeitslose mussten fortan beweisen, dass sich nicht in Eheähnlicher Gemeinschaft lebten. Einer beispiellosen Schnüffelpraxis wurde Tür und Tor geöffnet: Zwei Weingläser am Bett konnten Grund für die Kürzung der ALG-II-Bezüge sein.

Zum 1. Januar 2007 wurde weiter gedreht: Eine „Stallpflicht“ für junge Erwerbslose bis 25 Jahre eingeführt, die nur noch 80% des ALG II bekommen und bei ihren Eltern wohnen sollten. Zudem wurde das Sanktionsinstrumentarium bei „Pflichtverletzungen“ deutlich ausgebaut, Kürzungen bis 100% der Leistungen wurden möglich.

Niedriglöhne ausgedehnt

Die von rot-grün eingeführten und der großen Koalition „fortgesetzten“ Hartz-Gesetze stellen nicht nur eine schwere Verletzung der Menschenrechte dar sondern wirken fatal auf das Lohngefüge aller abhängig Beschäftigten. Unter der großen Koalition hat sich ein beispielloser Niedriglohnsektor entwickelt. Eine kürzlich veröffentlichte Studie des „Instituts für Arbeit und Qualifikation“ der Uni Duisburg-Essen kam zu dem Ergebnis, dass Niedriglöhne in Deutschland stark ansteigen.

Gleichzeitig stieg die durchschnittliche Wochenarbeitszeit, während der Krankenstand bei den Beschäftigten auf ein Rekordtief gesunken ist. Die Angst vor Hartz IV wirkt als verinnerlichte Peitsche. Deutschland gehört mittlerweile vom Standpunkt der Lohnabhängigen zum Schlusslicht vergleichbarer europäischer Länder in puncto Arbeitsbedingungen.

Militarisierung voran getrieben

Der rot-grüne Militarisierungsschub durch die Beteiligungen am Krieg gegen Jugoslawien (1999), Afghanistan (2001) und Irak (2003) wurde unter der großen Koalition systematisch fortgesetzt. Der Anteil der Soldaten in Afghanistan wurde von 2500 auf 4500 erhöht. Weitere Militäreinsätze, wie im Kongo oder an der somalischen Küsten wurden beschlossen. Der „Verteidigungsetat“ stieg laut Spiegel unter der großen Koalition von 24 auf 31,2 Milliarden Euro.

In den Jahren 2004 bis 2008 stieg laut SIPRI der deutsche Rüstungsexport im Vergleich zu 1999 bis 2003 um 70%. Deutschland ist damit drittgrößter Rüstungsexporteur der Welt.

Mit der 2007 eingeführten verfassungsrechtlich umstrittenen Vorratsdatenspeicherung wurde die gesamte Bevölkerung in Deutschland unter einen terroristischen Generalverdacht gesetzt: Die Anbieter von Telekommunikationsdienstleitungen sind verpflichtet sämtliche Kommunikationsvorgänge der Nutzerinnen zu speichern ohne dass ein Anfangsverdacht oder konkrete Hinweise auf Gefahren bestehen.

Europapolitik – Agieren in der verfassungsrechtlichen Grauzone

Ein zentraler Meilenstein der Merkelregierung war die Durchsetzung des sogenannten Lissabon-Vertrages als Ersatz für den per Referenden abgelehnten Verfassungsvertrag. Angela Merkel spielte auf europäischer Ebene eine Schlüsselrolle bei der Durchsetzung dieses Vertragswerkes und wurde dafür mit dem Aachener Karlspreis ausgezeichnet.

Am 24. April stimmte der Bundestag - wenige Tage nachdem überhaupt erst eine konsolidierte Fassung des Vertragswerk vorlag - mit den Stimmen der ganz großen Koalition (SPD, CDU, FDP und Grüne) für den Vertrag, der auf Jahrzehnte die europäischen Leitplanken in Richtung Militarisierung und Neoliberalismus festsetzt. Das Begleitgesetz zum Lissabonvertrag verstoße jedoch laut Bundesverfassungsgericht gegen die Beteiligungsrechte von Bundestag und Bundesrat. Eine entsprechende Neufassung des Begleitgesetzes soll noch in dieser Legislatur durchpeitscht werden.

Finanzmarkt – das Casino soll weiter gehen

Zu den weit reichendsten Beschluss der großen Koalition gehört zweifellos das Bankenrettungspaket Ende 2008 in Höhe von 500 Milliarden Euro.

Hintergrund dieser gigantischen Subventionierung des Bankenwesens auf Kosten der Allgemeinheit war die die massive Finanzkrise aufgrund des jahrelang immer weiter aufgeblähten Spekulationssektors – nicht zuletzt bedingt durch die Einführung von Hedge-Fonds, Swaps und anderen hochriskanten Finanzprodukten im Rahmen des „Finanzmarktmodernisierungsgestzes“, das am 1.1.2004 durch die ganz große Koalition von SPD, CDU, FDP und Grünen beschlossen wurde.

Mit dem Bankenrettungspaket, dessen Tragweite noch nicht abzusehen ist, wird die öffentliche Hand auf Jahrzehnte belastet. Die ungedeckten Schecks, die binnen kürzester Zeit in unvorstellbarer Höhe ausgestellt wurden, werden nach der Bundestagswahl bei der Bevölkerung eingelöst – egal ob von einer schwarz-gelben oder erneuten großen Koalition. Steuererhöhungen, weitere soziale Einschnitte und Belastung der kleinen und mittleren Einkommen werden die Folge sein.

Kleinere Übel?

Trotz all dieser Gesetze, die sich gegen die Bevölkerungsmehrheit richten, ist eine Wende nach der Bundestagswahl nicht in Sicht. Die einzige Opposition im Bundestag, DIE LINKE wird durch regelmäßige Medienkampagnen, meist genährt durch den eigenen rechten Flügel, stabil bei 10% gehalten. Die sozialen Bewegungen sind in den letzten beiden Jahren abgeflaut. Angstdiskurse, wie die Warnungen vor „sozialen Unruhen“, vor vermeintlichen Terroristen oder vor der „Schweinegrippe“ sollen die Aufmerksamkeit ablenken.

Die große Koalition war eine naht- und geräuschlose Fortsetzung der Politik der vorangegangen rotgrünen Koalition. Es ist zu erwarten, dass die gleiche Politik ebenso naht- und geräuschlos nach dem 27. September fortgesetzt wird, ob von schwarz-gelb, großer Koalition oder Jamaika. Diese „Übel“ unterscheiden sich lediglich in ihrer gesellschaftlichen Wirkung. Es sind allesamt unterschiedlich wirkende große Übel.Eine Linksverschiebung wie am Ende der ersten großen Koalition 1966-1969 ist angesichts des Festhaltens von SPD und Grünen an der Kriegspolitik und ihrer neoliberalen Ausrichtung nicht in Sicht. Entscheiden wird sein, wie viel Druck von links ausübbar ist – parlamentarisch und außerparlamentarisch.

Andrej Hunko, 18.8.2009, erschienen in SOZ, Sozialistische Zeitung, September 2009

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