Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko

Solidaritätsreise nach Istanbul für die Freiheit von zwei SchriftstellerInnen

Von Andrej Hunko

Vom 6. bis 8. Dezember war ich in Istanbul, um mich mit zwei höchst fragwürdigen türkischen Justizvorgängen auseinander zu setzen, dem Fall Nevim Berktaş und dem Fall Doğan Akhanlı. Beide Gefangene kommen aus der gleichen Generation, die zur Zeit des Militärputsches am 12. Dezember 1980 in ihrer Studentenzeit politisiert worden ist und unter großem persönlichem Einsatz Widerstand geleistet hatte. Hunderttausende, überwiegend links orientierte Menschen wurden nach dem Putsch verhaftet, darunter auch Doğan Akhanlı und Nevin Berktaş.

Doğan Akhanlı, Jahrgang 1957, saß von 1985 bis 1987 in türkischen Gefängnissen; 1991 floh er nach Deutschland, wo er politisches Asyl bekam und seit 2001 deutscher Staatsbürger ist und als Schriftsteller, der sich sowohl mit der türkischen, als auch der deutschen Geschichte auseinander gesetzt hat, verankert und anerkannt ist. Im August 2010 wurde er in Istanbul auf dem Weg zu seinem Vater, der im Sterben lag, erneut verhaftet. Er soll an einem ungeklärten Raubüberfall aus dem Jahre 1989 beteiligt gewesen sein.

Andrej Hunko beim Prozess gegen Dogan Akhanli in Istanbul (Dez. 2010)
Andrej Hunko vor dem Gericht in Istanbul

Nevin Berktaş, Jahrgang 1958, saß in den Jahren 1983 bis 2007 mit kurzen Unterbrechungen insgesamt 21 Jahre im Gefängnis. Im April 2000 veröffentlichte sie ihr Buch „Gefängniszellen“, eine autobiografische Verarbeitung der Gefängniszeit. Am 3. November 2010 wurde die Autorin ausschließlich wegen dieser Buchveröffentlichung erneut zu 10 Monaten Haft verurteilt und sitzt seitdem im Frauengefängnis in Bekirköy, einem Istanbuler Stadtteil.

Beide Autor/innen stehen jeweils ein Stück weit symbolisch für eine Generation linker türkischstämmiger Intellektueller, deren einschneidende Erfahrung der Militärputsch war. Während der Fall Doğan Akhanlı in Deutschland aufgrund seiner hiesigen Verankerung auf große Resonanz stieß und sich eine breite Solidaritätsbewegung bildete, ist die erneute Verhaftung von Nevin Berktaş nur in einigen türkischen Medien bekannt geworden.

In Akhanlıs Heimatstadt Köln bildete sich schon bald nach seiner Verhaftung um Albrecht Kieser eine aktive und gut organisierte Solidaritätsbewegung, die auch Günther Wallraff als Zugpferd gewinnen konnte. Bei einer Veranstaltung im November mussten fast 200 Leute wegen Überfüllung abgewiesen werden, auch in anderen Städten gab es gut besuchte Solidaritätsveranstaltungen. Der Fall erreichte nach und nach auch die großen Medien, die Solidaritätsbewegung konnte schließlich eine 20-köpfige Delegation zum Prozessauftakt nach Istanbul schicken, die hier ebenfalls auf großes Interesse der internationalen Medien stieß.

Solidaritätsdelegation in Istanbul kurz vor Dogan Akanlis Prozessbeginn
Solidaritätsdelegation in Istanbul kurz vor Dogan Akanlis Prozessbeginn

Für die Linksfraktion im Bundestag nahm ich eine Einladung zur Teilnahme als Prozessbeobachter an. Für mich war - neben der selbstverständlichen persönlichen Solidarisierung - als Europapolitiker auch die Frage der Entwicklung im türkischen Justizwesen interessant. Noch im Oktober war ich in Istanbul und Ankara als Delegationsteilnehmer des Ausschusses für die Angelegenheiten der EU gewesen. Wenige Wochen nach dem Verfassungsreferendum spielte dabei die Frage der Justiz eine zentrale Rolle. Interessant war hier, dass von seiten der deutschen Regierungsparteien, insbesondere von der CDU/CSU – ähnlich wie kurz darauf bei der Reise des Bundespräsidenten – lediglich die Frage einer vermeintlichen „Christenverfolgung“ in der Türkei Gegenstand kritischer Anmerkungen war, nicht aber handfeste Justizskandale, wie eben der Fall Doğan Akhanlı oder der Prozess gegen Politiker, Intellektuelle und andere Unterstützer der kurdischen Bewegung KCK in Diyarbakır. Aus Sicht der CDU/CSU werden so zwei Fliegen mit einer Klappe geschlagen: Man tut ja was für die Menschenrechte, indem man „Christenverfolgung“ anklagt, gleichzeitig konstruiert man so den Gegensatz zwischen „christlichem Europa“ und „muslimischer Türkei“ und kann damit den eigenen rechten Flügel ruhig stellen. Ansonsten war eine auffällige Nähe zwischen Schwarz-Gelb und der regierenden AKP festzustellen.

Besuch bei Nevin Berktaş nicht erlaubt

Wenige Tage vor der Abfahrt nach Istanbul zur Prozessbeobachtung wurde ich von deutschen Unterstützerinnen auf den Fall Nevin Berktaş angesprochen. Ich entschied mich etwas früher nach Istanbul zu fahren und versuchte kurzfristig eine Besuchserlaubnis zu erwirken. Parallel wurden Gesprächstermine in Istanbul organisiert, mit Human Rights Watch, mit dem türkischen Menschenrechtsverein IHD, mit den Verlegern des verbotenen Buchs „Gefängniszellen“, mit dem Anwalt von Nevin Berktaş und mit der kritischen Internetplattform Bianet.

Obwohl auch das Auswärtige Amt keine kurzfristige Besuchserlaubnis für Nevin Berktaş erwirken konnte, bin ich gleich nach der Ankunft in Istanbul mit dem Anwalt von Nevin Berktaş und einer Unterstützerin nach Bekirköy gefahren, um vielleicht vor Ort eine Besuchserlaubnis zu bekommen. Obgleich das erfolglos war, war das Gespräch mit dem zuständigen Staatsanwalt Aydin Yilmaz höchst interessant: Zunächst die Abwehrhaltung, warum ich mich als deutscher Politiker in die inneren Angelegenheiten einmische, wo es doch in Europa genug Probleme und rassistische Entwicklungen gäbe. Dann meine Entgegnung, dass ich nicht als Vertreter Europas oder Deutschlands komme, sondern als linker Oppositionspolitiker, der auch in Europa gegen rassistische und antitürkische Entwicklungen vorgeht und dankbar für die Einmischung vieler türkischer Freunde ist, die ihn etwa beim Kampf gegen Neo-Nazis unterstützten. Dann eine lange Diskussion über Justizreformen, Meinungsfreiheit etc. Ich weiß nicht, ob es was gebracht hat, zumindest sah der Staatsanwalt gefährliche Entwicklungen in der Türkei, was Meinungsfreiheit angeht, und es ist angekommen, dass der Fall Nevin Berktaş auch in Deutschland wahrgenommen wird.

Nevin Berktas nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 2007

Nevin Berktas nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis im Jahr 2007

41 Autor/innen in Haft

Nevin Berktaş gehört zu den sechs inhaftierten Autor/innen, die ausschließlich aufgrund ihrer Texte verurteilt worden sind. Die anderen gegenwärtig 35 inhaftierten Autor/innen sind alle unter einem anderen Vorwand verurteilt worden, so wie Doğan Akhanlı wegen eines angeblichen Raubüberfalls der Prozess gemacht werden soll. In der Urteilsbegründung wurden Berktaş auch nicht konkrete Passagen ihres Buches vorgeworfen, sondern das Buch in seiner Gesamtheit. Die Verleger, die ich später traf, interpretierten das dahingehend, dass nur so das bestehende Verbot aufrecht erhalten werden könne, da eine Verurteilung aufgrund bestimmter Passagen eine Legalisierung des um diese Passagen gekürzten Buches ermöglichen würde.

„Gefängniszellen“

Nevin Berktaş selbst schreibt über ihr Buch „Gefängniszellen“: „Einen großen Teil der langen Jahre, die ich im Gefängnis verbracht habe, habe ich in Isolationszellen verbracht, in den dunklen Zellen des 12. September. Ich wollte mit meiner Geschichte genau diese Zellen beschreiben. Diese Zellen, die sich von mittelalterlichen Kerkern kaum unterschieden. Ich wollte, dass man weiß, wie man in einer Zelle überleben kann, in der Ratten und Schlangen hausen. Die so feucht ist, dass sich kein Streichholz entfachen lässt. Ich wollte, dass man erfährt, was für eine Art von Folter es ist, gezwungen zu werden, die Nationalhymne zu singen, ‚Kommandeur‘ zu sagen, strammzustehen und Uniform zu tragen. Ich wollte meinen Beitrag zu dem Wissen um den 12. September leisten.“

Wegen der Verurteilung von Nevin Berktaş ist eine Beschwerde beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) aufgrund der Verletzung der Meinungsfreiheit und des Rechts auf ein faires Verfahren anhängig. Es gilt als wahrscheinlich, dass der EGMR den Fall als Eingriff in die Meinungsfreiheit und Verstoß gegen Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention werten wird, allerdings ist noch unklar, wann der Fall behandelt wird. Auch das Komitee „Writers in Prison“ des internationalen PEN, Human Rights Watch und der IHD verurteilen die Inhaftierung.

Symbolfigur für viele der Linken

Ich treffe mich mit dem IHD und Human Rights Watch. Bei den Gesprächen wird mir klar, wie sehr Nevin Berktaş Symbolfigur für viele der Linken ist, die nach dem Militärputsch inhaftiert waren. Die Vertreterin von Human Rights Watch, Emma Sinclair-Webb weist auf die uferlose Verwendung der Anti-Terror-Gesetze in der Türkei hin, die selbst zu einer Gefahr für demokratische Grundrechte wird. Nevin Berktaş ist auf Grundlage von Artikel 7,2 des Anti-Terror-Gesetzes verurteilt (Propaganda für eine illegale Organisation). Emma Sinclair-Webb überrecht mir eine Studie von Human Rights Watch mit dem Titel „Protest als terroristische Handlung - Der willkürliche Gebrauch von Anti-Terror-Gesetzen, um Demonstranten zu verfolgen und einzusperren“. Eine Entwicklung die auch in anderen Ländern um sich greift, denke ich bei mir. Ich verabrede mich mit ihr diesbezüglich im Europarat aktiv zu werden.

Viel Öffentlichkeit erreicht

Abends treffe ich in den Räumen des IHD die Solidaritätsdelegation aus Deutschland für Doğan Akhanlı. Letzte Absprachen werden getroffen, die Stimmung untereinander ist ausgezeichnet, man spürt, dass schon viel Öffentlichkeit erreicht wurde und die Einschätzung ist verhalten optimistisch, dass Doğan Akhanlı am nächsten Tag frei gelassen wird.

Vor dem Gerichtsgebäude am nächsten Tag warten schon viele Medienvertreter, das Interesse konzentriert sich überwiegend auf Günther Wallraff, der als Autor von „Ganz Unten“ verständlicherweise auch in der Türkei hohes Ansehen genießt. Wallraff bezeichnet Doğan Akhanlı als Freund, für den er sich verbürge. Im Falle einer Verurteilung würde er so lange in die Türkei kommen, bis Akhanlı frei ist, die entsprechenden Erfahrungen habe er aus den Auseinandersetzungen mit der griechischen Militärdiktatur gesammelt. Ich weise in den Interviews darauf hin, dass es sowohl innerhalb der EU, als auch in der Türkei Kräfte gibt, die eine demokratische Entwicklung blockieren wollen und dass eine Verurteilung von Doğan Akhanlı genau diese Kräfte stärken würde.

Freigelassen aber nicht freigesprochen

Der Prozessraum ist völlig überfüllt, Sitzplätze gibt es vielleicht für 30 bis 40 Besucher/innen, wir sind aber weit über 100. Der Prozess wird sehr formal abgehandelt, sicher auch um der internationalen Öffentlichkeit zu zeigen, dass es sich um ein rechtsstaatliches Verfahren handele. Das zieht den Prozess aber so in die Länge, dass mich die Nachricht seiner Freilassung erst auf dem Rückweg nach Deutschland ereilt: Doğan ist freigelassen, ohne Auflagen, aber nicht freigesprochen worden. Der Prozess soll am 9. März fortgeführt werden.

Ein bitterer Beigeschmack bleibt aber: Es war Doghan Akhanlı nicht vergönnt seinen Vater, den er eigentlich besuchen wollte zu besuchen. Er ist während der Haftzeit seines Sohnes verstorben. Allein das zeigt die Unmenschlichkeit des Justizvorgehens. Dennoch überwiegen erst mal Freude und Jubel über den Teilerfolg. Der Unterstützerkreis um Albrecht Kieser hat eine großartige Kampagne organisiert. Es bleibt zu hoffen, dass auch die anderen politischen Gefangenen in der Türkei, wie Nevin Berktaş, die aufgrund höchst fragwürdiger Urteile inhaftiert sind, eine ähnliche Aufmerksamkeit erhalten und frei gelassen werden. Und es bleibt zu hoffen, dass die Aufmerksamkeit, die Doğan Akhanlı zu teil wurde, sich auch auf sein schriftstellerisches Werk überträgt.

Dieser Artikel erschien am 15.12.2010 in der Neuen Rheinischen Zeitung

Andrej Hunko vor einer Friedensfahne

Andrej Hunko