Rede von Andrej Hunko am 8. Mai 2022 auf der Kundgebung am Elisenbrunnen
Liebe Freundinnen und Freunde, liebe Aachenerinnen und Aachener, in den vergangenen Jahren standen viele von uns am 8. Mai hier und haben das Ende des 2. Weltkriegs gefeiert. Denn die Kapitulation des rassistischen Nazi-Regimes in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 war für den überwältigenden Teil der Menschheit eine Befreiung. Viele unserer europäischen Nachbarn, die Franzosen, die Tschechen, die Slowaken etwa, feiern das Ende des zweiten Weltkriegs am 8. Mai offiziell, die Niederlande am 5. Mai und Italien am 25. April. Russland feiert den 9. Mai, da die Kapitulation in Karlshorst bei Berlin in der Nacht vom 8. auf den 9. Mai 1945 aufgrund der Zeitverschiebung in Moskau auf den 9. Mai fiel.
Lange wurde das hierzulande, in Westdeutschland, nicht so gesehen. Als unter Willy Brandt 1970 eine Bundesregierung erstmalig eine offizielle Regierungserklärung am 8. Mai abgab, protestierte die CDU/CSU Opposition: „Niederlagen feiert man nicht“. Erst 1985 sprach mit Richard von Weizsäcker ein Bundespräsident vom Tag der Befreiung. Heute ist der 8. Mai in einigen Bundesländern zumindest Gedenktag, in Mecklenburg-Vorpommern, in Brandenburg und in Schleswig-Holstein. Berlin erklärte den 75. Jahrestag 2020 einmalig zum Feiertag. Wir fordern, dass endlich in ganz Deutschland der 8. Mai gesetzlicher Feiertag wird!
Liebe Freundinnen und Freunde, angesichts des verheerenden Krieges in der Ukraine, der brutalen Archaik dieses Krieges, und der drohenden Eskalation, ist mir dieses Jahr jedoch nicht zum Feiern zumute. In der Folge dieses, möglicherweise epochalen Krieges, versuchen alle Kriegsparteien die Geschichte in ihrem Sinne umzumodeln. Unbestreitbar ist, dass die Sowjetunion die Hauptlast dieses Krieges trug und etwa 27 Millionen Opfer zu beklagen hatte, darunter überwiegend Russen aber auch Millionen ukrainische und belarussische Menschen. Unbestreitbar ist das der Großteil der Kriegsverbrechen der Wehrmacht auf dem Gebiet der heutigen Ukraine und des heutigen Belarus stattfand. Es darf keine selektive Opferwahrnehmung geben und auch keine Verdrehung der Geschichte im Interesse der ein oder anderen heutigen Kriegspartei!
Für den 8. und 9. Mai wurde dieses Jahr in Berlin das Zeigen kriegsverherrlichender Symbolik, aber auch die russische und ukrainische Nationalfahne verboten. Bis zu einem gewissen Grad ist das nachvollziehbar, auch wenn der ukrainische Botschafter Melnyk beklagt, dass das eben auch für die ukrainische Fahne gilt. Völlig unverständlich ist für mich aber, dass auch die rote Fahne der Sowjetunion verboten wurde, unter der sowohl russische, belarussische als auch ukrainische Soldaten gegen das Nazi-Regime kämpften. Ich war nie ein Anhänger des sowjetischen Gesellschaftsmodells, aber wenn die historische Erinnerung an die Rolle der Sowjetunion bei der Befreiung vom Nazi-Faschismus ausgelöscht werden soll, widerspreche ich deutlich.
Besonders befremdlich finde ich es, wenn nicht nur kriegsverherrlichende Symbolik verboten wird, sondern etwa auch russische Kultur. Vor wenigen Tagen wurde in Lindlar bei Köln dem jungen Orchester NRW die Aufführung der 2. Und 3. Sinfonie von Peter Tschaikovski, einem der bekanntesten russischen Komponisten, untersagt. Wan wolle kein Forum für russische Kultur bieten, so die Begründung des Bürgermeisters. Eine solch unfassbare Engstirnigkeit zielt darauf ab nicht nur diesen Krieg zu beenden, oder sich gegen die nationalistisch-autoritäre Entwicklung in Russland zu stellen, sondern das russische Kulturgut ganz allgemein zu ächten. Ich fordere Bürgermeister Georg Ludwig auf, diese Entscheidung umgehend rückgängig zu machen.
Liebe Freundinnen und Freunde, heute Abend wird Olaf Scholz zum ersten Mal anlässlich des 8. Mai eine Ansprache an die Nation halten. Ich sehe dem mit gemischten Gefühlen entgegen: Noch vor zwei Wochen erklärte Scholz, dass die Lieferung schwerer Waffen an die Ukraine Deutschland in diesen Krieg hineinziehen würde und sogar ein Atomkrieg drohe. Jetzt werden mit sieben Panzerhaubitzen schwerste Waffen geliefert. Der wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat festgestellt, dass die Lieferung von schweren Waffen in Kombination mit der Ausbildung von ukrainischen Soldaten Deutschland völkerrechtlich zur Kriegspartei würde. Und genau das soll gerade stattfinden. Auf diesen Sinneswandel angesprochen die SPD-Vorsitzende: Scholz hätte ja nicht wissen können, „was drei Tage später in Ramstein bekannt gegeben wurde“. Ich wiederhole: Scholz hätte nicht wissen können, „was drei Tage später in Ramstein bekannt gegeben wurde“.
Der US-Militärstützpunkt Ramstein ist einer der größten Militärstützpunkte weltweit, der auch eine Schlüsselrolle im US-Drohnenkrieg spielte. Dorthin hatte der amerikanische Verteidigungsminister vor zwei Wochen zu einer Konferenz eingeladen, an der 40 Nationen teilnahmen. Nach diesem Treffen ändert der Bundeskanzler seine Position zur Lieferung schwerer Waffen um 180 Grad. Wohlgemerkt in Ramstein, auf einem US-Militärstützpunkt, nicht etwa im Kabinett oder im Bundestag, auch nicht im UN-, OSZE oder auch NATO-Format wurde die Entscheidung getroffen, die Deutschland mutmaßlich zur Kriegspartei macht. Egal, wie man zur Waffenlieferung steht, - und ich lehne sie entschieden ab -, dieser Vorgang ist völlig inakzeptabel.
Der Krieg Russland gegen die Ukraine ist völkerrechtswidrig und eindeutig zu verurteilen. Allerdings verurteile ich auch die Versuche, diesen Krieg weiter zu eskalieren und eine diplomatische Lösung zu blockieren. Dazu hat es in den letzten Wochen hat es eine Reihe bemerkenswerter Äußerungen, denen ich mich anschließe. Ich möchte zwei zitieren:
1. Der linkssozialdemokratische Ex-Präsident Brasiliens und erneuter Kandidat im Herbst Lula da Silva übte scharfe Kritik an der Europäischen Union, den USA und am ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj geübt. Sie alle seien mitverantwortlich am Krieg in der Ukraine. Russland hätte nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen, betonte Lula, "aber es ist nicht nur Putin, der schuldig ist. Die USA und die Europäische Union tragen ebenfalls Schuld": Sie hätten der russischen Regierung zusichern müssen, dass die Ukraine nicht der Nato beitreten werde, "das hätte das Problem gelöst".
2. Ähnlich äußerte sich der Papst: Die Osterweiterung der NATO sei wie das „Bellen vor Russlands Tür“ und hätte den Krieg „vielleicht begünstigt“.
Allein diese Aussage führte zu heftigsten Reaktionen in deutschen Redaktionsstuben. Der Gedanke, dass nicht Putin alleine verantwortlich für diesen Krieg ist, sondern, dass es eine Mitverantwortung des Westens durch die NATO-Osterweiterung oder der Ukraine durch die Nicht-Umsetzung des Minsk-II-Abkommens gibt, wird als Relativierung oder Putin-Propaganda in der Öffentlichkeit gegeißelt – auch wenn es der Papst ist.
Genau diese Ursachenanalyse ist aber notwendig, wenn man den Krieg beenden will. Wenn man ihn weiter eskalieren will, muss man die Vorgeschichte ausblenden. Allerdings habe ich den Eindruck, dass eine Beendigung des Krieges nicht gewollt ist. Das ist der Hintergrund des Geredes von der Zeitenwende, von der Irreversibilität der aktuellen Vorgänge. Wer Frieden für die Ukraine und Russland will, wird in den nächsten Wochen und Monaten ein dickes Fell brauchen.
Das Augenfälligste an der gegenwärtigen Situation ist das völlige Ausblenden der Diplomatie. Wenn der EU-Außenbeauftragte sagt, dieser Krieg wird nicht am Verhandlungstisch „sondern auf dem Schlachtfeld entschieden“, dann ist klar, dass es von hier kein Interesse an einer Beendigung des Krieges gibt. Es wird unsere Aufgabe sein, das einzufordern. Gerade am 8. Mai.